Die Mitzwa (Gebot) an Purim Wein zu trinken

Abschalten vom ständigen Urteilen

7. März, 2020 – 11 Adar 5780

Von Dovid Gernetz

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Purim ist wahrscheinlich der beliebteste Feiertag im jüdischen Kalender und dies nicht ohne Grund: Kinder und Erwachsene verkleiden sich in kreative Kostüme und schenken sich gegenseitig Mischloach Manot (Geschenke). Familie und Bekannte versammeln sich beim feierlichen Festmahl, um gemeinsam Purim zu feiern und es herrscht eine ausgelassene Stimmung.

Einer der Bräuche und sogar Mitzwot (Gebote) dieses Feiertages ist es, Wein bzw. alkoholische Getränke in größeren Mengen zu trinken, bis man nicht mehr zwischen Mordechai und Haman unterscheiden kann (Talmud Megila 7b), natürlich nur unter der Bedingung, dass es die Gesundheit nicht gefährdet und in diesem Zustand keinesfalls Auto fahren darf. Kindern ist der Konsum von Alkohol vollkommen untersagt!

Judentum setzt auf klaren Verstand und volles Denkvermögen

Jedoch scheint es seltsam, dass unsere Weisen uns so eine Mitzwa überliefern, bei welcher es hauptsächlich darum geht, den Verstand zu trüben und das Denkvermögen einzuschränken. Das Judentum legt normalerweise sehr großen Wert darauf, dass man stets einen klaren Verstand beibehält und die Kontrolle über sich hat, damit die Erfüllung der Mitzwot nicht gefährdet wird und man nicht zu unangebrachten oder gar verbotenen Handlungen neigt.

Dies war einer der Gründe, den Rabbi Mosche Feinstein (1895-1986, eine der größten halachischen Autoritäten des 20. Jahrhunderts) seinerzeit anbrachte, um den Konsum von Marihuana zu verbieten:

„Und auch wenn sich gesunde Menschen finden, denen das Rauchen von Marihuana physisch nicht schadet, trübt es dennoch den Verstand und schränkt das Denkvermögen ein […] außerdem führt es zu vielen verbotenen Handlungen.“ (Igrot Mosche Y”D 35)

Diese Aussage macht es nicht gerade leichter zu verstehen, warum es an Purim nicht nur erlaubt ist, sondern zu den Mitzwot des Tages gehört, reichlich Wein bzw. Alkohol zu konsumieren, bis man nicht mehr unterscheiden kann.

Grund für das Verhängnis

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst verstehen, wie es überhaupt dazu kam, dass das jüdische Volk vollkommen vernichtet werden sollte. Natürlich war es die unbegrenzte Macht Hamans, sein ebenfalls grenzenloser Hass gegen das jüdische Volk und die Gleichgültigkeit Achaschweroschs, welche dazu führten, dass das Todesurteil des ganzen Volkes unterschrieben wurde. Aber im Judentum ist man der Ansicht, dies könnte nur passieren, wenn sich das jüdische Volk etwas zuschulden kommen gelassen hatte und diese Strafe wirklich verdiente. Was also war der wahre Grund und der Auslöser dieses unheilvollen Verhängnisses?

Unsere Weisen erklären, dass der wahre Grund in Hamans Worten versteckt ist:

„Und Haman sprach zu Achaschwerosch, es gibt ein Volk, zerstreut und verteilt in allen Ländern deines Königreichs…“ (Megilat Esther 3:8)

Der mündlichen Überlieferung nach ist damit nicht nur gemeint, dass sie an verschiedenen Orten lebten und im gesamten Königreich Achaschweroschs verteilt waren, sondern dieser Vers beschreibt die Beziehung und das Verhältnis zwischen den Juden. Es gäbe nicht genug Liebe und Verständnis untereinander und manchmal sogar grundlosen Hass. Wenn es an brüderlicher Gemeinsamkeit im jüdischen Volk fehlt, und man sich gegenseitig hasst, dann läuft etwas schief und das Volk muss bestraft werden.

Beziehungen zwischen Mensch und Mensch wichtiger als zwischen Mensch und G‘tt

G‘tt sind die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch wichtiger als das Einhalten der Thora und das Befolgen seiner Gebote.

„Anstand kommt der Thora zuvor“ lehren unsere Weisen im Medrasch (Yaikra Rabba 9:3).

Aus diesem Grunde, erklärt Rabbi Chaim Vital (Schüler des großen Kabbalisten Arizal), wird in der Thora grundsätzlich nicht befohlen, ein guter Mensch zu sein und seine Charaktereigenschaften zu verbessern, weil dies selbstverständlich ist und vorausgesetzt wird, um die Thora erfüllen zu können.

Der Talmud lehrt, dass der Erste Tempel wegen Mord, Ehebruch und Götzendienst zerstört wurde. Der Zweite Tempel hingegen wurde wegen grundlosen Hasses zerstört (siehe Sefer Mitzwot Katan 5). Wenn wir die Länge der Exile nach den jeweiligen Vertreibungen vergleichen, dann fällt auf, dass der Erste Tempel schon nach 70 Jahren wiederaufgebaut wurde. Das Exil des Zweiten Tempels jedoch dauert schon tausende von Jahren an und wir warten noch immer auf die Erlösung. Aus der Härte der Strafe lernen wir, wie wichtig G‘tt der Frieden im jüdischen Volk ist und wie vorsichtig man im Umgang mit Menschen zu sein hat.

Woher stammt grundloser Hass?

Rav Schlomo Wolbe (1914-2005, großer Rabbiner und Philosoph des 20. Jahrhunderts) erklärt, was der hauptsächliche Auslöser für grundlosen Hass und erfolglose Beziehungen zwischen Menschen ist:

Ob Essen, Gerüche oder Geräusche, wir Menschen beurteilen alles, was wir wahrnehmen. Sobald der entsprechende Impuls in unserem Gehirn ankommt, wird er in sekundenschnelle bearbeitet und es wird entschieden, wie wir dazu stehen. Auch Menschen, welche wir treffen und mit welchen wir verkehren, sind keine Ausnahme von dieser „Beurteilung“, und schon nach wenigen Sekunden kommen wir zu unseren Schlussfolgerungen.

Wir vergleichen unser Gegenüber stets mit uns selbst, weil wir uns als Maßgeber der Normalität sehen. Je größer der Unterschied zwischen uns ist, desto „schlechter“ und kritischer fällt unser Urteil aus. Diese Differenzen und diese Vorurteile bringen uns dazu, uns von dieser Person zu distanzieren. Dies beeinträchtigt das Zustandekommen einer Freundschaft oder Beziehung, und führt zu grundlosem Hass (mit „grundlosem Hass“ muss nicht gemeint sein, dass man sich richtig hasst, sondern, dass das Verhältnis kühl ist).

Konsum von Alkohol beeinträchtigt das ununterbrochene „Unterscheiden“

Wenn ein Mensch Alkohol trinkt, dann wird der Prozess der Beurteilung verlangsamt oder gänzlich gestoppt, weil der Mensch nicht mehr imstande ist zu unterscheiden. In diesem Zustand ist es viel leichter, neue Menschen kennenzulernen und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen, weil man nicht so kritisch ist und eher bereit ist, Differenzen zu tolerieren.

Wie schon erwähnt, passierte die ganze Purim-Geschichte überhaupt nur deshalb, weil das jüdische Volk nicht genug vereint war und sich gegenseitig nicht wohlgesonnen war. Um das wiedergutzumachen haben es unsere Weisen zu einer Mitzwa gemacht, an Purim Wein oder Alkohol zu trinken, damit wir unsere Mitmenschen nicht mehr so streng beurteilen und über die Unterschiede hinwegsehen. Somit wird, zumindest an einem Tag im Jahr, das ganze jüdische Volk vereint und alle sind den anderen wohlgesonnen.

„Bis man nicht zwischen Mordechai und Haman unterscheiden kann“

Das Maß, das unsere Weisen angeben, wie viel man an Purim trinken sollte, weist darauf hin, dass es dabei um die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des Unterscheidens geht. In diesem Zustand kann man alle Menschen akzeptieren, so wie sie sind und sogar einen „Haman“ dem Mordechai gleichstellen!

Es ist schade, dass Menschen diesen Anlass als Rechtfertigung benutzen, um sich „von der Leine zu lassen“ und sich vollkommen zu betrinken. Davon war niemals die Rede und dies hatten unsere Weisen nicht im Sinn. Man muss besonders vorsichtig sein mit seinem Verhalten, keinen Chilul Haschem (Entweihung des G‘ttlichen Namens) zu verursachen und das jüdische Volk und seine Tradition nicht zu beschämen. Wenn man seine Grenzen kennt und es verantwortungsbewusst begeht, dann wird Purim der fröhlichste und lustigste Feiertag im jüdischen Kalender, so wie er eigentlich sein sollte.

Rav Dovid Gernetz wurde in Dnepropetrowsk, Ukraine geboren und ist in Berlin, Deutschland aufgewachsen. Er studierte zwei Jahre in einer Yeshiva in Zürich, Schweiz und anschließend zwei Jahre in einer Yeshiva in Gateshead, England. Seit seiner Hochzeit lebt er in Telz Stone in Israel. Der Autor ist Vertreter von Imrey Deutschland e.V und verantwortlich für die Website judentum.online .

Quelle: IMREY Deutschland e.V. (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Der Beitrag erschien im März, 2020 – Adar/Nisan 5780 in der Jüdischen Rundschau . Ich danke dem Verlag und der Redaktion für die Erlaubnis, ihn hier vollständig wiedergeben zu dürfen.

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