Mein erster Yizkor

Von Yosef Y. Jacobson

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Die ersten 33 Jahre meines Lebens hatte ich das Glück, während des Yizkorgebetes, aus der Synagoge herausgeworfen zu werden. Beim Yizkor betet die Gemeinde für die Seelen der verstorbenen Angehörigen und alle, deren Eltern beide noch leben, verlassen die Synagoge so lange.

Ich hatte diesen Brauch nie hinterfragt. Als Kind, auch als Erwachsener noch, war ich froh, ausgeschlossen zu sein, draußen frische Luft zu schnappen und mit den anderen Vertriebenen zu plaudern. Für uns Kinder bedeutete es, wir brauchten erst eine oder zwei Stunden später zurückzukommen ohne daß unsere Väter böse wurden.

All das änderte sich für mich in diesem Jahr. Mein Vater, ein Pionier der jüdischen Presse in Amerika, starb im Alter von 70 Jahren. Zwei Wochen später kam der jüdische Feiertag Shavuot, an dem wir das Geschenk der Torah am Sinai feiern. Es ist auch einer der Tage, an denen in Synagogen der ganzen Welt Yizkor gebetet wird.

Anders als in Kirchen ist es in Synogogen meist laut. Die Synagoge, die ich an diesem Feiertag zum Yizkorgebet besuchte, war klein aber besonders bunt gemischt, rechthaberisch und lärmend. Rund einhundert Besucher füllten den Raum in der sechzig Jahre alten, bescheidenen Synagoge in Brooklyn und jede Gebetspause nutzten sie für erregte Gespräche und Debatten. Wärend die Gemeinde ans Ende der Torahlesung kam erreichten die Auseinanderstzungen – typisch jüdische Debatten – ihren Höhepunkt. In einer Ecke entspann sich ein leidenschaftlicher Diput über den Rückzug Israels aus Gaza, in einer anderen stritt man heftig über einen Apekt des jüdischen Gesetzes. Kinder nörgelten herum, ältere Männer ärgerten sich. Andere versuchten, sich mit geschlossenen Augen und offenem Herzen auf ihre Gebete zu konzentrieren.

Dann kam die Zeit für den Yizkor. Mehr als die Hälfte aller Besucher der Synagoge ging hinaus. Die heilige Torahrolle wurde in die Mitte des Raums getragen. Einer der Anwesenden sorgte dafür, daß alle, die gehen sollten, gegangen waren und die Tür sicher verschlossen wurde, so daß niemand hereinkommen könnte. Dann klopfte er auf den Tisch als Zeichen, daß das Yizkorgebet beginnen sollte.

Auf einmal erfüllte eine beklemmende Stille den Raum. Der lebhafte Raum, gerade eben noch erfüllt von geselligem Drang und lebhafter Diskussion, war verwandelt. Ein Gefühl von Geheimnis, Ehrfurcht und unterdrücktem Schmerz breitet sich aus. Die unverhüllten Gefühle waren wie mit dem Messer zu schneiden. Etwas ursprüngliches, tiefgreifendes verband alle im Raum.

Mein Herz wandte sich meinem verstorbenen Vater zu, den ich so tief geliebt und verehrt hatte. Meine Tränen fanden Trost im Wissen um sein wohlerfülltes Leben. Mein Vater hatte seine Lebensweisheit und sein journalistisches Geschick genutzt, um zur Stimme für die Anliegen zu werden, die andere liegengelassen hatten; er war ein Mann der Überzeugung, eine wahrhaft originelle Persönlichkeit, ein ganzer Kerl. Ich erinnerte mich an die letzten Stunden meines Vaters und die Würde, mit der er zu seiner letzten Reise aufbrach. Und ich weinte für meine Kinder, denen der Vorzug nicht gewährt war, ihren einzigartigen Großvater kennenzulernen.

Ich hob meine Augen und sah mich unter den Leuten im Raum um. Bei mir stand ein Mann meines Alters, der seine Mutter schon im zarten Alter von fünf verloren hatte. Ein Leben ohne Yizkor war für ihn unvorstellbar. In der Nähe standen andere, die Eltern als Jugendliche oder Studenten verloren hatten und darum rangen, die unausfüllbare Leere zu füllen. Dann gab es ältere Männer, siebzig und achtzig Jahre alt, deren Eltern mehr als sechs Jahrzehnte früher in Stalins Gulags oder Hitlers Krematorien umkamen. Sie bilden eine Gruppe für sich. Daneben natürlicn die Mehrheit der Beter in mittlerem Alter, die alle an einem Punkt ihres Lebens der Wirklichkeit des Verlustes ins Auge sehen mußten.

Eine seltsame Einheit durchdrang uns alle, die wir während des Yizkor im Raum standen. Die Verbindung brauchte nicht in Worte gefaßt zu werden; wir konnten sie in den Augen der Umstehenden erkennen. Es brauchte seine Zeit, bis ich das Wesen dieser Verbindung verstand: Ein Stück eines jeden von uns war nicht mehr in dieser Welt zu finden. Ein wesentlicher Teil aller unserer Herzen war woanders.

Ich begriff warum ich 33 Jahre lang aufgefordert wurde, die Synagoge während des Yizkor zu verlassen. Das Leben der Zurückbleibenden gewinnt eine andere Bedeutung, eine, die nicht mit denen geteilt werden kann, die nie zusahen wie die Erde sich über einem geliebten Menschen schloß.

Am kommenden Yom Kippur werde ich wieder während des Yizkor in der Synagoge bleiben. Ich werde an meinen Vater denken und es wird mich gleichzeitig weinen und auch lachen machen. Ich werde ihn bitten, ein Auge auf mich und meine Familie zu richten. Und ich werde um das Verdienst beten, seine Lebensfreude und Wahrheitsliebe zu verinnerlichen.

Rabbi Yosef Y. Jacobson ist Chefredakteur der Allgemeiner.com, einer Website für jüdische Nachrichten und Kommentare auf Englisch und Jiddisch. Rabbi Jacobson ist ebenso ein beliebter und vielgefragter Vortragender zur chassidischen Lehre und der Autor der Cassettenserie “A Tale of Two Souls.”

Quelle: www.chabad.org , Übersetzung von mir.

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