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Als kleines Mädchen habe ich mich ins Lesen verliebt. Ich weiß noch, wie ich mich auf die Ausflüge freute, die meine Mutter mit mir in die Bibliothek unserer Stadt unternahm. In der großen Auswahl fanden wir immer das richtige Buch. Zu Hause legte mir meine Mutter dann einen Arm um die Schulter und las mir daraus vor. Vorgelesen bekommen – das ist eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen.
Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass ich dann später Lehrerin und Bibliothekarin wurde.
Zwischen Büchern voller Geschichten und Wälzern voller Wissen habe ich mich immer wohl gefühlt. Dass ich nur den Arm auszustrecken brauchte, um Antworten auf vieles zu finden, was mich neugierig machte, erschien mir befriedigend und ermutigend. Außerdem hatte ich große Freude daran, den Kindern, die vorbeikamen, etwas zu erklären oder etwas vorzulesen. Wer Bescheid wissen will, geht in die Bibliothek.
Schulbibliotheken – und überhaupt alle Bibliotheken – sind mehr als Bücherspeicher. Sie sind Treffpunkte für Menschen und im wahrsten Sinne des Wortes "Gemeindezentren" – in Amerika schon seit 1638, als John Harvard Geld und Bücher stiftete und in Cambridge, Massachusetts, eine der ersten Bibliotheken unseres Landes gründete. Gewiss, der Kreis der Bibliotheksbenutzer war damals viel kleiner als heute. Im 17. und 18. Jahrhundert konnten nur wenige Leute lesen und schreiben und noch weniger saßen stundenlang über Büchern, die sie aus einer Bibliothek entliehen hatten.
Heute wird uns der Zugang zu Informationen leicht gemacht, und es erscheint uns fast selbstverständlich, dass wir jede Bibliothek betreten und in ihren Regalen herumstöbern können.
Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass vielen Amerikanern der Zutritt zu Bibliotheken verboten war und manche, die es trotzdem versuchten, verhaftet wurden. Tatsächlich fand eine der ersten Bürgerrechtsdemonstrationen Amerikas in einer Bibliothek statt – 1939, viele Jahre, bevor die eigentliche Bürgerrechtsbewegung in Gang kam.
Zu dieser friedlichen Demonstration kam es in einer öffentlichen Bücherei in Alexandria im Bundesstaat Virginia. Ein junger Anwalt namens Samuel Tucker führte den Protest damals an.
Es empörte ihn, dass die Bibliothek Afroamerikanern den Zutritt verwehrte, und er brachte fünf junge Männer dazu, aus Protest gegen das Gesetz, das sie ausschloss, in der Bibliothek ein Sit-in zu veranstalten.
Der Kampf um die Gleichberechtigung brachte viele gewöhnliche Leute dazu, ungewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Unsere Kinder können sich heute vielleicht schwer vorstellen, dass tatsächlich großer Mut dazu gehörte, an jenem Tag die Bibliothek zu betreten, ein Buch aus dem Regal zu nehmen, sich an einen Tisch zu setzen und zu lesen.
Dank mutiger Leute wie Samuel Tucker stehen die Türen der Bibliotheken heute jedem offen, der hereinkommen will.
Man hat die Büchereien manchmal "Paläste des Volkes" genannt. Heute ist das so wahr wie nie zuvor: Heute sind die Bibliotheken Paläste, die allen Menschen gehören. Der Schlüssel zu diesen Palästen (und den Schätzen in ihrem Inneren) ist der Leserausweis.
Ich hatte das Glück, dass mir meine Mutter schon früh einen Leserausweis besorgte. Es war der erste Ausweis überhaupt, den ich in meiner Brieftasche mit mir herumtrug, und ich habe diesen allerersten Ausweis in jungen Jahren und auch noch als Erwachsene viel benutzt.
Aber die Ausflüge in die Bibliothek waren nicht das Einzige – ich hatte auch das Glück, dass meine Mutter mir ihre Zeit schenkte und vorlas. So kam es, dass ich mein Leben lang gern gelesen habe.
Viele Kinder haben heute leider nicht das Glück, dass Erwachsene ihnen vorlesen – und viele kommen in die Schule, ohne dass sie je ein eigenes Buch besessen hätten.
Es gibt Leute, die versuchen, dagegen etwas zu tun. In Boston hat eine Gruppe von Kinderärzten angefangen, ihren jungen Patienten Bücher zu verschreiben. Von jeder Vorbeugeuntersuchung kommen die Kinder mit einem eigenen Buch nach Hause, und die Eltern bekommen Anregungen, wie sie das Sprachvermögen ihrer Kinder fördern können. Diese Idee hat inzwischen viel Anklang in Arztpraxen überall im Land gefunden.
Ich freue mich darauf, zusammen mit dem Nationalen Zentrum für Leseförderung "Reach Out and Read" in Boston diese wichtigen Bestrebungen im ganzen Land zu unterstützen.
Von klein auf Bücher lesen ist nicht bloß eine gute Medizin – es ist auch etwas, das zur täglichen Beschäftigung der Kinder gehören sollte. Sie profitieren enorm davon, wenn es mit dem Vorlesen und dem Lesen frühzeitig losgeht. Eltern sollten ihren Kindern oft vorlesen, und sie sollten früh damit anfangen. Und sobald die Kinder selbst lesen können, sollten sie es auch jeden Tag tun.
Eltern, die wissen wollen, wie sie ohne große Kosten oder kostenlos ihren Kindern Anregungen zum Lesen geben können, sollten mit ihnen auch in die nächste Bibliothek gehen. Außer ihren Bücherschätzen bieten viele Bibliotheken auch wunderbare Programme zur Leseförderung.
Ich hoffe, Sie werden mit mir und vielen anderen Bücherliebhabern der Bibliothek wieder mal einen Besuch abstatten. Und wenn Sie schon dort sind, lassen Sie sich doch gleich einen kostenlosen Leserausweis ausstellen. Da sind sie in guter Gesellschaft.
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Laura W. Bush wurde am 4. 11. 1946 unter dem Namen Laura Lane Welch geboren. 1977 lernte sie auf einer Grillparty George W. Bush kennen, den sie drei Monate später heiratete. Am 20. Januar 2001 zog sie als neue First Lady ins Weiße Haus ein. Die gelernte Grundschullehrerin und Bibliothekarin liebt Bücher seit jeher. In der Zeit als First Lady des Bundesstaates Texas organisierte sie viele Jahre ein Literaturfestival. Sie bekämpft den Analphabetismus in den USA und unterstützt die Bestrebungen des Nationalen Zentrums für Leseförderung, Kindern frühzeitig und langfristig die Schönheit des Lesens zu vermitteln.
Die Originalversion steht in der Onlineausgabe der Welt.