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Ausgabe 17/04 vom 16. April 2004
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„Denk ich an Deutschland in der Nacht,/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht,“ schrieb Heinrich Heine 1843 unter der Überschrift „Nachtgedanken“ in der „Zeitung für die elegante Welt“. Mit dem Wort „Deutschland“ verband er bestimmte Vorstellungen, Erwartungen, Empfindungen, wie den nachfolgenden Zeilen Heines zu entnehmen ist:
„Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd' ich es immer wiederfinden.“
Die Vorstellungen, die das Wort „Deutschland“ bei den Deutschen auslöst, können als der Begriff Deutschland, als „deutsche Identität“ (nach den subjektiven Urteilen und Empfindungen) bezeichnet werden. Denn, so belehrt uns „Das große Wörterbuch der deutschen Sprache“, Identität bedeutet in der Psychologie die „als Selbst erlebte innere Einheit der Person“, hier also der imaginären Kollektivperson „deutsches Volk“.
Woran denken wir Deutsche, wenn von Deutschland die Rede ist? Eine schriftliche Befragung, z.B. hier und jetzt, würde sicherlich zeigen: Die Antworten sind sehr mannigfaltig und reichen von Land und Leuten auf Sylt und in Berchtesgaden, in Cottbus und Aachen, über Sprache und Symbole, über Kultur und Geschichte, Politik und Staat, Recht und Philosophie bis hin zu Wirtschaft und Industrie, made in Germany, Sport und Spaß.
Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf Verfassung und Geschichte, Geschichte, so weit sie die Besonderheiten der Verfassung verständlich macht.
„Eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte“ hat sich, wie es in der Präambel heißt, das Bayerische Volk seine Verfassung gegeben. Auch die deutsche Geschichte reicht über tausend Jahre zurück. Deutschland wurde im 10. Jahrhundert nach der Dreiteilung des Karolingerreiches der Verband der Franken, Sachsen, Schwaben und Bayern. Im 11. Jahrhundert erhielt dieses „Ostfränkische Reich“ die Bezeichnung Regnum Teutonicum. Doch die Landesherren und die Städte erstarkten. Das Reich verlor im Laufe der Jahrhunderte an Bedeutung. In den Wirren der Napoleonischen Kriege legte der besiegte Kaiser Franz von Österreich die römisch-deutsche Kaiserkrone nieder.
Erst 65 Jahre später konnte wieder ein deutscher Kaiser gekrönt werden, ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles, wo die preußische Streitmacht und ihre Alliierten infolge des Sieges über Frankreich das Sagen hatten. Eine Reichsverfassung regelte den Aufbau des Staates und die Kompetenzen der Reichsorgane. Sie hatte 47 Jahre Bestand, bis die Monarchie in den Wirren der Niederlage im Ersten Weltkrieg unterging. Die erste deutsche Republik gab sich, obwohl staats- und völkerrechtlich mit dem Kaiserreich identisch, eine gänzlich neue Verfassung, die den Reichstag zum obersten staatlichen Machtorgan emporhob und den organisatorischen Teil um einen umfangreichen Grundrechtsabschnitt ergänzte.
Das „Dritte Reich“ hat diese Verfassung, die Weimarer Reichsverfassung, nie förmlich außer Kraft gesetzt. Dennoch blieb, bildlich gesprochen, kein Stein auf dem anderen. Der radikale Umbau begann mit der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ (28. Februar 1933), durch die alle politisch relevanten Grundrechte suspendiert wurden. Weitere rasche Schritte auf dem Wege zur absoluten Macht tragen die Namen: Ermächtigungsgesetz, Gleichschaltungsgesetz, NSDAP-Gesetz, Neuaufbaugesetz, Staatsoberhauptgesetz. Schon im Sommer 1934 war Hitler in einer Person: Reichspräsident, Reichskanzler, Reichsgesetzgeber, oberster Befehlshaber der Wehrmacht, Regierungschef und oberster Gerichtsherr. Alle Merkmal des totalitären Staates waren geradezu idealtypisch erfüllt: eine Partei, Medienmonopol, terroristische Geheimpolizei und die für alle verbindliche einheitliche Weltanschauung. Damit wäre die politische deutsche Identität jener Ära knapp, aber doch aussagekräftig skizziert.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß das Grundgesetz alle diese Verfassungsgrundsätze des „Dritten Reiches“ Punkt für Punkt entschieden negiert. Doch das Resultat war nicht die Wiederherstellung der Weimarer Verfassung, vielmehr gab es im Verhältnis zu ihr zahlreiche fundamentale Neuerungen.
Klaus Stern, einer der namhaftesten deutschen Staatsrechtslehrer, begann einen Vortrag mit der Feststellung: „Dem Grundgesetz standen 1948/49 bei seiner Entstehung mehrere ausländische Verfassungen Pate, etwa die der USA, der Schweiz, Österreichs und Italiens. So gab es Rezeptionen bei den Grundrechten, bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch beim Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat.“
Als das Grundgesetz entstand, war Deutschland ein besetztes Gebiet und den Weisungen der Sieger ausgeliefert. Dennoch waren die Westmächte nach dem Scheitern der Viermächtekonferenz (November/Dezember 1947) bestrebt, die Zügel locker zu lassen, um dem Eindruck entgegenzuwirken, die rechtliche Basis der zu schaffenden Bundesrepublik sei ein Oktroi der Alliierten. Auch kam hinzu, daß sie untereinander längst nicht in allen Fragen einer Meinung waren. So befürwortete Frankreich, selbst das Muster eines Einheitsstaates, für Deutschland einen extremen Föderalismus.
Die Empfehlungen der Westmächte „beschränkten sich in Dokument Nr. 1 auf die Errichtung eines demokratischen, föderalistischen Staates, der mit einer hinreichenden Zentralgewalt ausgestattet, eine Gewähr von Recht und Freiheit für die Bewohner bieten sollte.“ Dokument Nr. 2 hatte den Föderalismus zum Gegenstand, wobei im Prinzipiellen die Meinungen der Beteiligten nicht geteilt waren. Dafür gab es eine Reihe von Gründen, so auf deutscher Seite die romantische Erinnerung an „glücklichere Zeiten“, von denen Friedrich Schiller in Notizen zu einem Gedicht „Deutsche Größe“ schwärmt: „Keine Hauptstadt und kein Hof übte eine Tyrannei über den deutschen Geschmack aus. So viele Länder und Ströme und Sitten, so viele eigne Triebe und Arten.“ Hinzu kam die im Bewußtsein aller gegenwärtige Tatsache, daß der überwundene NS-Staat die äußerste Machtkonzentration verkörpert hatte und auch die als Bedrohung empfundenen Sowjets den Einheitsstaat favorisierten.
Weithin bekannt ist der große Einfluß der US-Gegebenheiten, insbesondere des US Supreme Court, auf die Ausgestaltung des Bundesverfassungsgerichts.
Doch wenn wir den Rang einer Norm vor allem nach seiner Stellung im Grundgesetz bemessen und daher den ersten Artikeln besondere Bedeutung zusprechen, so ist das Grundgesetz weit mehr als nur ein Derivat aus zahlreichen anderen Urkunden. Es hat eine ganz eigene Note und sucht unter allen ausländischen Verfassungen ihresgleichen. Dieser „Sonderweg“ wird schon mit der Präambel beschritten, deren erste Worte bekanntlich lauten: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen [...] hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Auch andere einschlägige Urkunden sprechen von Gott, so die englische Magna Charta des Jahres 1215 und die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die wie ein Gebet beginnt: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen!“ Doch dann ist dort der Transzendenz Genüge getan und der Staatsaufbau wird nüchtern beschrieben. Im Grundgesetz hingegen wird die Anrufung Gottes ergänzt durch die feierliche, fast sakrale Feststellung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der zweite Absatz des ersten Artikels nennt eine der wichtigsten Konsequenzen: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten [...]“ Artikel 2 Absatz 1 verdient gleichfalls besondere Erwähnung, da das in ihm angesprochene Sittengesetz mit der Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen und mit dem Bekenntnis zu den Menschenrechten korrespondiert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Dies alles beweist einen fundamentalen Mentalitätswandel des Grundgesetzes nicht nur gegenüber dem Geist des „Dritten Reiches“, sondern auch gegenüber der Weimarer Republik, wo wir dergleichen vergeblich suchen. Natürlich sind auch „Rechtsstaat“, „Demokratie“, „Sozialstaat“ usw. Steckbriefmerkmale der Bundesrepublik, doch ist insofern die Eigenheit im internationalen Vergleich weit geringer.
Der Schluß liegt nahe, daß wir diesen neuen Geist dem Parlamentarischen Rat verdanken, der das Grundgesetz erarbeitet hat. Dem ist aber nicht so. Bereits in der ersten deutschen Nachkriegsverfassung, der des Landes Württemberg-Baden vom 24. November 1946, begegnen wir den charakteristischen Schlüsselworten Gott, Würde, Menschenrechte und Sittengesetz. Der erste Absatz des ersten Artikels lautet: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des ewigen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“ Die Präambel hat den Wortlaut: „In einer Zeit großer äußerer und innerer Not hat das Volk von Württemberg und Baden im Vertrauen auf Gott sich diese Verfassung gegeben als ein Bekenntnis zu der Würde und zu den ewigen Rechten des Menschen als einen Ausdruck des Willens zu Einheit, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit.“
In dem erwähnten Essay schildert auch Klaus Stern die Ausstrahlung des Grundgesetzes auf eine Reihe von Verfassungen anderer Staaten. Er nennt Griechenland, Portugal, Spanien und ehemalige Mitglieder des Ostblocks. Doch die Gemeinsamkeiten reichen nicht so weit, daß die zitierten ersten Artikel des Grundgesetzes nicht länger für die deutsche Identität bezeichnend wären.
Auswirkungen dieses rechtsphilosophischen Mentalitätswandels sind wohl bis heute spürbar, auch wenn sie nicht exakt zu beweisen sind. Jede Diskussion über Embryonenschutz, Schutz des ungeborenen Lebens, Organtransplantation und Euthanasie vollzieht sich in Deutschland vor dem Hintergrund einerseits dieser Verfassungsvorgaben, andererseits der menschenverachtenden Praktiken und Prinzipien des NS-Staates, weshalb der Lebensschutz in Deutschland auf den genannten Problemfeldern strenger ist als in den meisten anderen europäischen Staaten.
Die zitierten Passagen des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 wurden bis heute nicht geändert, ja die in Artikel 1 niedergelegten Grundsätze sind gemäß Artikel 79 Absatz 3 jedem Zugriff entzogen. Aber Gesetze, auch Verfassungen, unterliegen häufig einem stillen Wandel, der sich um Ewigkeitsklauseln wenig kümmert. Was zur deutschen Verfassungsidentität zählt, bleibt von diesem Erosionsprozeß nicht verschont. Die Frankfurter Allgemeine brachte am 3. September 2003 einen ungewöhnlich umfangreichen Aufsatz unter der Überschrift: „Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern. Die Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes markiert einen Epochenbruch“. Verfasser war der frühere Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die ausführliche Überschrift skizziert den Inhalt. Was er unter dem Stichwort „Menschenwürde“ an Verfassungswandel veranschaulicht, hat sich längst vorher mit Blick auf die Zentralbegriffe „Verantwortung“ und „Sittengesetz“ zugetragen. Die Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts füllt mehr als einhundert Bände, vom Sittengesetz des Artikels 2 war aber nur einmal die Rede, und das liegt fast fünfzig Jahre zurück. Seit dieser Zeit ist das Sittengesetz für die Richter geradezu inexistent ebenso wie die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Dabei kommt weder das moderne Recht noch die moderne Philosophie ohne die Annahme eines Sittengesetzes, einer rechtsverbindlichen Minimalmoral aus, auch wenn andere Bezeichnungen dafür gewählt werden.
Die Ausblendungen zentraler Vorgaben der Verfassung werden dadurch noch brisanter, daß sie durch andere Worte ersetzt werden, die geradezu das Gegenteil des Intendierten besagen. So deutet das Gericht den „ethischen Standard“ des Grundgesetzes als „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist“. Die Worte „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ sind dem Artikel 2 entnommen, an die Stelle des dort als Schranke genannten Sittengesetzes ist die Selbstbestimmung getreten, an die Stelle der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Eigenverantwortung. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung passen besser zur Fun-Gesellschaft unserer Tage als die ernsten Verfassungsworte der Nachkriegszeit. Aber folgt daraus, daß das Vermächtnis derer, die den schlimmsten Fall Deutschlands durchleiden mußten und 1948/49 das Grundgesetz schufen, en passant weggewischt werden darf?
Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind geradezu mit Händen greifbar und müssen zumindest kurz veranschaulicht werden, da andernfalls die deutsche Identität in einem falschen Lichte erscheint. Erwähnt sei nur der weitgehend durchlöcherte Ehrenschutz, der nach Auffassung bestqualifizierter Verfassungsrechtler kaum noch existiert, und die faktische Schutzlosigkeit des ungeborenen menschlichen Lebens gegenüber der eigenen Mutter. So werden Jahr für Jahr in Deutschland allein nach der amtlichen Statistik 130.000 Kinder im Mutterleib getötet. Die Kosten, die der Staat trägt, belaufen sich auf 40 Millionen Steuer-Euro im Jahre 2003, Beihilfen des Staates für in der Regel rechtswidrige Tötungen menschlichen Lebens. Das hätten sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht träumen lassen, als sie ihre Verantwortung vor Gott und den Menschen beteuerten.
„Eigenverantwortung“ und „Selbstbestimmung“ leisten der Selbstsucht Vorschub, die in unseren Tagen immer mehr in diverse Süchte entartet, Magersucht, Freßsucht, Spielsucht, Trunksucht, Drogensucht usw. Auch diese Feststellung ist Teil der deutschen Identität, eine ihrer tristen Seiten.
Die Biographie eines Menschen prägt weitgehend seine Identität. Ähnlich verhält es sich mit menschlichen Gemeinschaften. Deutsche Identität und deutsche Geschichte sind aufs engste miteinander verwoben. Die deutsche Geschichte reicht, wie erwähnt, tief zurück ins Mittelalter. Allein mit der Aufzählung der einschneidenden Ereignisse könnte ein langer Vortrag gefüllt werden. Daher ist auch insofern eine radikale Beschränkung angezeigt, die uns die Texte der Nachkriegsverfassungen nahelegen.
Vom prägenden Einfluß der Verfassung des Landes Württemberg Baden auf die ersten Artikel des Grundgesetzes war schon die Rede. In der Präambel dieser Länderverfassung wird mit größtmöglicher Deutlichkeit jene Kraft erwähnt, die den geradezu einmaligen geistigen Umschwung im Verfassungsdenken ausgelöst hat: „In einer Zeit großer äußerer und innerer Not...“ Insofern noch anschaulicher das Vorwort der gleichaltrigen Bayerischen Verfassung: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat...“ Die zwölf Jahre Nationalsozialismus bilden also ein wesentliches Element deutscher Identität, und es gibt, wenn ich recht sehe, niemanden, der dies bestreitet, der diese zwölf Jahre verschweigt, auch wenn wir sie noch so gerne ungeschehen machen möchten. Mehr noch: Schon der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, hat auf historisch einmalige Weise begonnen, Wiedergutmachung zu vereinbaren, die nun schon über 50 Jahre geleistet wird.
Das offene, nachdrückliche Bekenntnis zu den dunkelsten Seiten der deutschen Geschichte und die Wiedergutmachung im Rahmen des Möglichen sind keine Selbstverständlichkeiten. Frankreich, La Grande Nation, zum Beispiel rühmt sich der Revolution von 1789. Als erste Nation auf dem Kontinent habe sie den Ideen der Aufklärung zum Durchbruch verholfen. Sie verschwieg lange die Hunderttausende, die im Verlauf der Revolution ermordet wurden. Noch vor zehn Jahren war es für französische Staatsmänner selbstverständlich: Vichy ist nicht Frankreich. Mit anderen Worten: Die Verbrechen der Regierung der Jahre 1940-1944 wurden nicht als genuiner Bestandteil der französischen Geschichte wahrgenommen.
Detlef Junker, von 1994 bis 1999 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington D.C., schildert, was er auf den Stufen des Kapitols erlebte: „wie diese Hunderttausende, umgeben von patriotischen Denkmälern wie dem Washington Monument, dem Jefferson- und Lincoln-Memorial, in Liedern und Hymnen die amerikanische Dreieinigkeit von Gott, Vaterland und Freiheit besingen; wie diese Nation von Einwanderern... sich an solchen Festtagen immer aufs neue konstituiert, indem sie ihrem Gründungsmythos vom ,süßen Land der Freiheit' (,sweet land of liberty') Dauer und Zukunft verleiht.“
Junker beschreibt den „ironischen“ Verlauf des Streits um neue Richtlinien für die Vermittlung von Geschichte. Eine von Präsident Bush sen. unter patriotischen Vorzeichen eingesetzte Kommission kam zu dem Schluß, daß die mangelnden Geschichtskenntnisse durch neue, nationale Standards verbessert werden müßten. Doch die von Historikern erarbeiteten Richtlinien erregten einen Teil der Öffentlichkeit und den Senat so sehr, daß der Senat die Richtlinien mit 99 zu 1 Stimmen als unverantwortlich verdammte. Die Vertreibung und Vernichtung großer Teile der Indianer, die Ausbeutung und Mißhandlung der schwarzen Sklaven sollen tunlichst nicht thematisiert werden.
Der Holocaust spielte, als er sich ereignete, in der amerikanischen Publizistik nur eine geringe Rolle. Daran änderte der Sieg der Alliierten über die Achsenmächte nicht viel. Der Schock, den die Bilder aus befreiten Vernichtungslagern und von Leichenbergen auslösten, hielt nicht lange vor. Erst Jahrzehnte später kam es zu einer Rückbesinnung auf das Schreckliche, das fast vergessen schien. „Amerikanisierung des Holocausts“ ist zum Schlagwort geworden. Henryk Broder zählt auf, was in den nächsten zehn Jahren auf diesem Gebiet alles geschah und resümiert: „Amerika erlebt einen Holocaust-Rausch“. Ein brennendes Verlangen sei ausgelöst worden, „sich nachträglich ein Stück Geschichte anzueignen, bei dessen Erstaufführung man lange Zeit uninteressiert abseits gestanden hatte.“
„Der wichtigste Grund der Popularität des Holocaust bei den 98 Prozent der nichtjüdischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten [scheint] allerdings gerade der zu sein, daß die Amerikaner sich selbst in ihrer Rolle als Erlöser der Welt bestätigen können. Die Erinnerung an das Verbrechen eines fremden Volkes, der Deutschen, führt zugleich zu einer Externalisierung des Bösen und einer Bestätigung der eigenen, heroisch-patriotischen Geschichtsbetrachtung.“
Daß sich Deutschland insofern ganz anders verhält, könnte von uns Deutschen als Teil der positiven deutschen Identität empfunden und ausgespielt werden, könnte uns mit etwas Nationalstolz erfüllen. Aber bekanntlich ist das Gegenteil der Fall, war unsere Verteidigungsbereitschaft in der Zeit des Kalten Krieges die geringste und ebenso verhält es sich mit dem nationalen Selbstbewußtsein, dem Nationalstolz. Danach gefragt, lag Österreich auf Platz eins gefolgt von den USA, Deutschland aber auf dem vorletzten Platz, vor der Slowakei.
Welches sind die Gründe für diese miese deutsche Stimmung? In seiner Untersuchung „Der deutsche Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit“ stellt Hans-Ulrich Thamer zutreffend fest: „Die deutsche Zusammenbruchsgesellschaft, die von Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen, Ausgebombten und Kriegsinvaliden geprägt war und eine Gesellschaft in Bewegung darstellte, haderte vor allem mit dem eigenen Schicksal und war auf dessen Bewältigung bedacht; sie war weniger dazu bereit, über die persönliche oder kollektive Mitverantwortung an dieser Situation nachzudenken: Man verstand sich als Opfer, nicht als Täter.“ Dann kam Ende der sechziger Jahre die rebellische Generation der Söhne, die, so Thamer, „ihre Väter pauschal als Täter oder Helfershelfer anklagten, die Bundesrepublik als neofaschistischen Nachfolgestaat des Dritten Reiches denunzierten, sich selber allzu rasch auf das hohe Roß des Anklägers setzten...“
Einer dieser Ankläger von damals ist Außenminister Joseph Fischer. Auch heute klagt er, so am 11. Mai 2002 in der Frankfurter Allgemeinen: „Salomon Korn stellt fest, daß viele der deutschen Juden sich in diesen Monaten allein gelassen fühlen. Er beschreibt das Gefühl, als Jude in Deutschland in 'Kollektivhaftung' genommen zu werden für jegliches Vorgehen Israels gegen die Palästinenser“.
Diese Klage des Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland ist gerechtfertigt, zumal kein deutscher Jude die israelische Regierung gewählt haben dürfte. Aber ist dieser Vorwurf nicht verständlich angesichts der Tatsache, daß bis heute den Deutschen, die unter Hitler lebten, Kollektivhaftung, ja Kollektivschuld angelastet wird, auch von Samuel Korn? In der Frankfurter Rundschau vertritt er die Auffassung, daß in Deutschland kaum „das Bewußtsein einer zwischen 1933 und 1945 verursachten tiefgreifenden kulturellen und zivilisatorischen Selbstamputation [zu spüren sei]. Dazu hätte es eines Unrechtsbewußtseins der Deutschen nach Kriegsende bedurft.“
„... der Deutschen“, das heißt doch aller oder fast aller Deutschen. Doch wer hat bis heute den Nachweis für die Richtigkeit dieses Vorwurfs angetreten? Als Sohn eines behördlich anerkannten NS-Opfers spreche ich nicht pro domo. Es geht mir nicht um die Rettung der deutschen Ehre um jeden Preis, nicht: right or wrong my country, sondern um die historische Wahrheit. Je intensiver man die zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen heranzieht, um so deutlicher zeigt sich, warum Hitler die Vernichtung der Juden mit allen Mitteln geheimhalten wollte. Das Volk, das ihn mehrheitlich über Jahre hinweg fast abgöttisch verehrte, hatte kein Verständnis für seine brutale Judenpolitik.
Der Antisemitismus war um die Jahrhundertwende in Europa weit verbreitet, manifest vor allem in Rußland mit den zahlreichen Pogromen (dieses russische Wort steht für Terror, Verwüstung) und Frankreich, Stichwort: Dreyfus-Affäre (1894 ff.). Deutschland blieb von diesen Strömungen nicht gänzlich verschont. Aber sie gewannen im politischen Raum keine Oberhand, so daß die rechtliche Emanzipation der Juden unangetastet blieb und sogar noch weiter ausgebaut werden konnte. Daher fühlten sich die Juden mehrheitlich in Deutschland recht wohl. „Im europäischen Kontext galt bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus die deutsch-jüdische Geschichte durchaus als eine Erfolgsgeschichte. In kaum einem anderen Land war die Integration, aber auch die Assimilation der Juden so weit fortgeschritten wie in Deutschland.“
Ein Jude erinnert sich: „Was Amram die ersten Schritte im Leben erleichterte, waren gute Freunde. F., aus dem selben Milieu wie er und aus derselben Schule... und S. aus einer ostjüdischen Familie, die wie viele andere Juden mit dem Beginn antisemitischer Ausschreitungen aus Osteuropa nach Deutschland geflüchtet waren, das nach Ende des Ersten Weltkrieges als eines der freundlichen Zufluchtsländer galt.“
Die meisten Juden empfanden gesellschaftliche Brüskierungen als geradezu notwendige Begleiterscheinungen einer heterogenen Gesellschaft, in der die Bayern und Sachsen ihre antipreußischen Ressentiments kultivierten und umgekehrt, in der die Diskriminierung der Katholiken als rückständige, unzuverlässige Ultramontanisten an der Tagesordnung war, die ihrerseits das Laisser-faire der Liberalen tadelten. Die Juden wußten, daß sie selbst nicht verlegen waren, wenn es galt, eigene Interessen zu vertreten oder andere auf die Schippe zu nehmen. Martin Buber pries die „Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen“ und ihre große „Fruchtbarkeit“.
Die turbulenten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die Vorgänge in Rußland, die Massenimigration von Juden aus dem Osten, die von Juden angeführte Räterepublik in Bayern gaben dem Antisemitismus auftrieb, obwohl, bildlich gesprochen, in München Juden auf beiden Seiten der Barrikaden standen. Es waren turbulente, ja chaotische Tage. Der Jude Kurt Eisner wurde in München ermordet. Doch auch der Mörder war ein Jude. Walther Rathenau fand als „Erfüllungspolitiker“, wie das Schimpfwort lautete, ebenso einen gewaltsamen Tod wie auch der nichtjüdische Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger und andere. Der Münchener Kardinal Faulhaber wurde bestürmt, dem Anschwellen judenfeindlicher Haßgesänge entgegenzutreten. Nur wenige Tage vor Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle am 9. November 1923 sprach er in seiner Allerseelenpredigt „von der gegenseitigen Liebe im gemeinsamen Leid.“ Mit blindem Haß gegen Bauern und Bayern, gegen Juden und Katholiken würden keine Wunden geheilt. Der Text verdeutlicht, wie weite Teile der Bevölkerung gegenseitig Animositäten schürten und keineswegs nur die Juden zur Zielscheibe solcher Angriffe wurden. Das Ende der Inflation 1923 verbesserte die wirtschaftliche Lage und hob so die allgemeine Stimmung.
Viele deutsche Juden als Teil der deutschen Gesellschaft sonnten sich nun im Licht der „Golden Twenties“, wie wir den Erinnerungen Nahum Goldmanns, 1949 zum Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses gewählt, entnehmen: „Der Höhepunkt jüdischen Einflusses wurde in der Weimarer Republik erreicht – wohl eine der größten Kulturepochen deutscher Geschichte. Die drei bedeutendsten deutschen Banken – Deutsche Bank, Disconto-Gesellschaft und Dresdner Bank – hatten jüdische Direktoren; die drei größten Tageszeitungen – Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung und Frankfurter Zeitung – gehörten Juden und wurden meist von Juden redigiert; die zwei einflußreichsten deutschsprachigen Zeitschriften – Die Fackel und Die Weltbühne – wurden von Juden geleitet; der wichtigste Theaterdirektor dieser Epoche – Max Reinhardt – war Jude...“ Also kann man mit Fug und Recht behaupten, daß gerade Juden den Geist dieser Jahre nachhaltig beeinflußt haben.
Der schöne Schein der zwanziger Jahre wurde getrübt durch antisemitische Kriminalität, schwankend entsprechend der Stärke der NSDAP. Die Ideologie, die sie propagierte, war nicht tonangebend, wenngleich sie gerade in akademischen Kreisen ein positives Echo auslöste. Ein schöner Beleg für jüdische Integration ist die Tatsache, daß noch 1932, als der FC Bayern zum ersten Male deutsche Meister wurde, sowohl der Präsident, Kurt Landauer, als auch der Trainer Jude waren.
Hitlers NSDAP, die Antisemitenpartei, nahm erstmals an den Reichstagswahlen des Jahres 1924 teil und erhielt die Stimmen von 6,5 Prozent der Wähler im Mai und 3,0 Prozent im Dezember; am 20. Mai 1928 waren es noch 2,6 Prozent, die NSDAP also eine Splitterpartei. Innerhalb von nur 28 Monaten schnellte der Anteil auf 18,3 Prozent empor. Die Zahl der Abgeordneten stieg von 12 auf 107. Für Hitlers rasanten Aufstieg gibt es nur eine Erklärung, nämlich die sprunghaft steigende Arbeitslosigkeit, die schier unvorstellbare Not, gegen die die etablierten Parteien offenbar kein Rezept hatten; Hitlers Antisemitismus spielte eine untergeordnete Rolle. In ihrer Verzweiflung versuchten es die Massen mit Hitler, der eine rasche Besserung versprach und der nur darum bat: „Gebt mir vier Jahre Zeit!“
Die raschen innen- und außenpolitischen Erfolge Hitlers als Kanzler dürften, so wird allgemein angenommen, ursächlich dafür gewesen sein, daß eine große Mehrheit der Deutschen von der neuen Regierung sehr angetan gewesen ist. Gilt dies auch für die Judenverfolgung, die Reichspogromnacht und die Tage danach, die Stigmatisierung durch den Judenstern, die Judenvernichtung?
Die Übergriffe der ersten Jahre wurden offenbar nicht von oben angeordnet, wenngleich auch nicht energisch unterbunden. Eingang in die Medien fanden sie nicht. Der Boykott jüdischer Einrichtungen am 1. April 1933 wurde als Gegenboykott deklariert und gerechtfertigt. Was die Reaktion der Bevölkerung auf die Ausschreitungen insbesondere der SA in und nach der Reichspogromnacht anlangt, so heißt es in einer eingehenden Untersuchung zusammenfassend: „Fast alle diplomatischen Berichte stellten die Passivität der Bevölkerung heraus, das stumme Entsetzen, Zornesausbrüche einiger weniger, die Scham der meisten. Die Diplomaten beobachteten Leute, die die Entehrung der Juden unmittelbar als Verletzung der eigenen Ehre, als Entehrung des deutschen Namens empfanden. Die auswärtigen Beobachter nahmen vor allem ein Volk in tiefer Depression wahr. Jeder, der widersprechen wollte, hatte längst begriffen, daß er auf keinerlei Schutz durch Behörden, Gerichte oder Nachbarn hoffen durfte.“
Dompropst Bernhard Lichtenberg betete am 10. November 1938 in der katholischen Hauptkirche Berlins, in der St. Hedwigskathedrale: „für die Priester in den Konzentrationslagern, für die Juden, für die Nichtarier“ und fügte hinzu: „Was gestern war, wissen wir. Was morgen ist, wissen wir nicht. Aber was heute geschehen ist, haben wir erlebt. Draußen brennt der Tempel. Das ist auch ein Gotteshaus“. Lichtenberg betete weiter für alle Verfolgten, auch für die Juden, und zwar fast drei Jahre lang, bis sich am 29. August 1941 zwei nichtkatholische Mädchen in die Hauptkirche Berlins verirrten und Anzeige erstatteten, was zu seiner Verhaftung führte. Vor diesen Mädchen haben im Verlaufe der Jahre Tausende die Fürbitten gehört, jedoch gegenüber der Geheimen Staatspolizei geschwiegen, ja die meisten wohl für die Juden mitgebetet.
Die Tochter eines Berliner Juden erinnert sich: „Mein Vater trug am Mantel den gelben Stern, so daß alle verstanden, wer er war. Die Menschen machten alle sehr betretene und beschämte Gesichter, es herrschte tiefes Schweigen. Rechts und links wurde mein Vater von seiner Frau und mir gestützt, um die Stufen [beim Einsteigen in die Straßenbahn] nehmen zu können. Was ich damit sagen will: Die ... so häufig zitierte Judenhetze von damals hat doch ein sehr viel differenzierteres Gesicht. Kein Einziger hat ein verunglimpfendes Wort gesagt, die wartenden Menschen bildeten ganz betreten schweigend ein Spalier.“
Noch weit aussagekräftiger ist die Schilderung des Juden Eugen Herman-Friede, daß ein ganzer Ort, Blankenburg, über sein Versteck Bescheid wußte. Doch niemand verriet ihn an Hitlers Geheime Staatspolizei. Blankenburg war nicht der einzige Ort, wo alle Bewohner den Häschern ihre Mitarbeit versagten.
In einer einschlägigen Untersuchung, herausgegeben im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, Berlin, heißt es: „Es zeichnet sich auch ab, daß für jede untergetauchte Person bis zu zehn, bisweilen auch erheblich mehr, nichtjüdische Helfer aktiv wurden, um das Überleben im Untergrund zu ermöglichen. Hinzu kamen oft zahlreiche Mitwisser, die zwar nicht selbst den Mut oder die Gelegenheit zur Hilfe hatten, die aber die Rettungsaktion deckten, indem sie schwiegen.“ So gelang es in Berlin rund 1.500 Juden, den Häschern, darunter auch Juden, zu entkommen.
Gibt es einen zuverlässigeren Chronisten der deutsch-jüdischen Symbiose unter dem Hakenkreuz als den Juden und Literaten Victor Klemperer, dessen Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1933-1945 sieben Bände füllen? Im Februar und März 1942, als Hitler noch im Zenit seiner Macht stand, mußte der mit dem Gelben Stern stigmatisierte Professor in Dresden Schnee schaufeln. In dieser Zeit erlebte er Mitgefühl („Das ist doch zu schwer für Sie“), Anstand („Der Pg., vor dem wir gewarnt waren: Fünfzig Jahre, das Gesicht scharf geschnitten, ein bißchen an die Lieblingstypen der NSDAP erinnernd, leidenschaftlicher Arbeiter... Er wurde bald gegen uns alle freundlich zutunlich, plauderte, half, trieb niemanden...“) ebenso wie antisemtische Ausfälle von Passanten („Laßt die nur arbeiten! Gut, daß sie auch mal arbeiten.'“) und von Pimpfen („...verfolgten uns mit Hohngeschrei“), aber auch politische Resignation („'So weit ist es mit Deutschland gekommen!'“) und stillen Widerstand („Verteilung der Lohnbeutel. Name ohne 'Israel'“, [Straßenmeister: 'Dazu bin ich zu taktvoll.']). Klemperer faßt seine Eindrücke zusammen: „... ich glaube, auf einen solchen [Hitler-]Gläubigen kommen doch wohl schon fünfzig Ungläubige. Genauso ist wohl das Verhältnis derer, die uns mit Vergnügen arbeiten sehen oder beschimpfen, zu den Sympathiekundgebern...“
Nach den Erfahrungen Klemperers kamen also auf einen deutschen Judenhasser fünfzig Deutsche, die Mitleid mit den verfolgten Juden empfanden. In die gleiche Richtung weisen die anderen zitierten Dokumente. Nimmt es wunder, daß sich die Sympathisanten der Juden und jene, die aus Anstand ihr Wissen nicht der Gestapo preisgaben, nach Kriegsende nicht schuldig fühlten? Auch sie lebten häufig in Angst, litten Not, waren auf vielfältige Weise Opfer des Krieges. Würde man ganz konkret auf die Schicksale der Einzelnen eingehen, würde man wohl zu der Einsicht gelangen, daß sie weit mehr Opfer als Täter waren, Opfer freilich in nicht so schrecklichem Ausmaße wie das Gros der Juden. Sicherlich haben viele dieser Deutschen in den dreißiger Jahren Hitler zugejubelt. Aber dieser Jubel galt dem Manne, der die Schmach des „Versailler Diktatfriedens“ – so das Urteil aller deutschen Parteien, die KPD nicht ausgenommen – getilgt hatte. Dieser Jubel begründet doch keinen Vorwurf mit Blick auf den Holocaust, der damals noch nicht einmal geplant war.
Es darf nicht übersehen werden, daß das „Dritte Reich“ vom ersten Tag seines Bestehens an schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hat. Aber, verglichen mit später, ab Kriegsbeginn, waren die Zahlen gering; die Medien durften nicht darüber berichten. Viele entschuldigten Hitler mit der Annahme, daß er davon nichts wisse, es sich um Exzesse im Siegesrausch handle, anderswo, so in der Sowjetunion und später in Spanien, der Terror noch weit schlimmere Ausmaße angenommen habe.
Daher die Schlußfolgerung: Wir dürfen nicht zögern, die Verbrechen des NS-Regimes als wichtigen Teil der deutschen Geschichte, der deutschen Identität zu bekennen. Aber wir sollten jenen entgegentreten, die allgemein von deutscher Schuld sprechen, wenn damit gemeint ist, daß die große Mehrheit der damals lebenden Deutschen mitschuldig gewesen sei an einem der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. Ein solcher Vorwurf ist ungeheuerlich, wenn er nicht bewiesen wird. Dieser Nachweis wurde bis heute nicht erbracht. Das Grundgesetz deklariert in Art. 20 (4) das Recht zum Widerstand. Von Pflicht ist nicht die Rede. Wo ist die Ethik, die ohne Rücksicht auf eigene Gefährdung den Widerstand gegen eine mörderische Gewalt zur Norm erhebt.
Wie kann es zu einer fruchtbaren deutsch-jüdischen Symbiose als neuem Element der deutschen Identität kommen? In dem Essay des deutschen Außenministers, aus dem bereite zitiert wurde, heißt es ferner: „...recht uneigentlich lauert, wie immer, wenn es in Deutschland um Israel geht, eine urdeutsche Identitätsdebatte gleich hinter der nächsten Ecke. Darf man Israel kritisieren?... Die deutsche Demokratie hat seit damals ... die fortgeltende historische Verantwortung Deutschlands für den Völkermord am deutschen und europäischen Judentum angenommen, und diese Verantwortung ist der feste und zentrale Grundstein der Selbstbegründung der deutschen Demokratie nach 1945. Nur so konnte über den tiefen Graben zwischen den Tätern und Opfern von einst neues Vertrauen wachsen.“
Nun, zwischen den „Tätern und Opfern von einst“ ist kein Vertrauen gewachsen. Mit den Tätern würden die allermeisten Opfer gar kein Gespräch führen. Vermutlich meint er mit „Täter“ die Deutschen. Wer leichtfertig mit Blick auf ein furchtbares Verbrechen den Tätervorwurf erhebt, begründet neue schwere Schuld. Wenn jemand so ungehemmt den Schuldvorwurf ausstreut, möge er konkret werden. Andernfalls setzt er sich dem Vorwurf aus, daß er einem substanzlosen Kult mit der Schuld huldigt, der die Vortragsreise eines Daniel Goldhagen im Oktober 2002 zu einem Triumphzug gemacht hat, wie ihn noch kein seriöser Wissenschaftler erleben durfte.
Aber Goldhagen hat doch bewiesen, daß Hitler schier zahllose Helfer bei der Umsetzung seiner Endlösungspläne fand: Deutsche, Ukrainer, Letten usw. Was nicht in sein Bild paßt, sind Juden. Doch auch von ihnen leisteten einige einen beachtlichen Beitrag als Judenräte, als Häscher, als Polizisten, in den Gaskammern. Bei den Juden war es sicherlich ausnahmslos Angst um das eigene nackte Leben, bei den anderen überwiegend Mordlust oder Sadismus, Kollektivgeist, soweit die Täter nicht von der absoluten Verbindlichkeit eines Befehls ausgingen, oder die Sorge, andernfalls der Ächtung durch Vorgesetzte und Kameraden zu verfallen, eine Schwäche, die selbst in einem freiheitlichen Gemeinwesen auf Schritt und Tritt anzutreffen ist. Wäre Antisemitismus das Hauptmotiv gewesen, hätten die Vollstrecker nicht den anderen „Minderwertigen“ gegenüber, den geistig Behinderten, den Polen, den Russen, den Sinti und Roma, die gleiche Brutalität gezeigt wie gegenüber den Juden.
Michael Wildt ist in seiner Habilschrift des Jahres 2002 den Lebensläufen von 221 leitenden Mitarbeitern des aus Gestapo, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst zusammengefügten Reichssicherheitshauptamtes (RSAH) nachgegangen und fand bei keinem „zu Beginn des 'Dritten Reiches' irgendwelche Anzeichen für einen 'eliminatorischen' Antisemitismus, obgleich etliche von ihnen ein paar Jahre später die Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen befehligten“. Die Mordbereitschaft entstand und wuchs in und mit dem NS-System.
Das alles sind für viele unbequeme Wahrheiten. Aber eine fruchtbare Symbiose auf wissenschaftlicher Ebene kann es nur geben, wenn alle Beteiligten auf der Suche nach der deutschen Identität folgende Grundsätze respektieren: Keine Tabus; keine Vergleichsverbote, auch wenn die Vergleiche anstößig sein sollten; gleiche Maßstäbe für alle Völker und Menschen;in dubio pro reo; die Wirklichkeit ist zumutbar.
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