Die papierne Illusion

von Roland Baader
© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.   www.jungefreiheit.de
Ausgabe 39/06 vom 22. September 2006

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Die Zivilisation ist eine hauchdünne Schicht über dem dicken Lebensteig unserer Triebe und Instinkte. Sie gehört nicht zur Erbmasse, sondern muß in jedem neugeborenen menschlichen Wesen durch sorgsame Weitergabe seitens der zuständigen Erwachsenen neu herangebildet werden. Der hauptsächliche Ort, wo dies stattfindet, ist die Familie. Zivilisatorische Hochblüten hat es in der Menschheitsgeschichte schon etliche und schon vor langer Zeit gegeben, aber das, was den Namen "moderne Zivilisation" verdient, ist nicht viel älter als hundert Jahre.

Woraus besteht diese moderne Zivilisation? Aus einer bestimmten Hardware (Geräte und Materialien für Zwekke der Produktion, Hygiene, Medizin, Verkehr, Kommunikation etc.) und einer bestimmten Software, bestehend aus Sprache, Wissen, Bildung, Moral, Umgangsformen etc. Wichtiger Bestandteil der Software sind auch die allgemein akzeptierten Regeln des "Man tut" und "Man tut nicht", die sich in menschlichen Gemeinschaften und Gesellschaften heranbilden, ohne daß jemand sie bewußt geplant oder "erfunden" hätte. Sie sind - ähnlich der Sprache - "Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs" (F. A. von Hayek). Solche Überlebensregeln entstehen aus den natürlichen Zwängen des Lebens und Zusammenlebens, sowie aus den Knappheiten der Ressourcen, von denen wir leben und die wir zum Überleben brauchen; nicht zuletzt auch aus religiösen Überlieferungen. Von großer Bedeutung sind auch die Handlungsnormen der arbeitsteiligen Kooperationsprozesse, die wir in ihrer Gesamtheit Wirtschaft nennen.

Die hinter diesen Regeln stehenden Zwänge und Notwendigkeiten sind in der Neuzeit mit ihren unzähligen technischen Neuerungen und Wissensmehrungen geringer geworden und somit leichter zu meistern, aber sie sind nicht verschwunden und haben ihren Charakter nicht wesentlich verändert. Nach wie vor gilt beispielsweise als eine Art ökonomisches Naturgesetz: Wer etwas haben möchte, das seine gegenwärtig verfügbaren Mittel übersteigt, muß dafür arbeiten und sparen. Angesichts der weitgehenden Unveränderlichkeit der ökonomischen Gesetze haben sich in der Gesellschaft und in den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften sogenannte "Sekundärtugenden" als Lebens- und Überlebensnormen entwickelt, die als Charaktereigenschaften verinnerlicht wurden. Dazu gehören Fleiß, Zuverlässigkeit (Halten von Verträgen), Sparsamkeit, Höflichkeit, Disziplin usw. Die hämische Kritik der 68er-Intellektuellen, man möge diese Tugenden über Bord werfen, weil "man mit Disziplin auch ein KZ führen" könne, ist armselig. Nach diesem Strickmuster der Argumentation könnte man auch dafür plädieren, die Liebe abzuschaffen, weil sie mancherorts in schrecklicher Weise mißbraucht wird.

Das Selbstwertgefühl einer Person hängt wesentlich von ihrer Bewertung, von ihrem "Verdienst" ab. Geld ist damit ein wichtiger Wertmaßstab in der Gesellschaft, nicht nur für Güter und Dienste, sondern auch für die mit ihnen umgehenden Personen.

Nun stehen Geld und persönlicher Charakter miteinander in engerer Verbindung, als so mancher wahrhaben will. Sowohl das Selbstwertgefühl einer jeden Person als auch ihr angestrebter Status in der Gesellschaft hängen - zwar nicht ausschließlich, aber wesentlich - davon ab, wie ihre Arbeit von der Gesellschaft und vom näheren Umfeld, in welchem die betreffende Person lebt, bewertet wird. Und diese "Bewertung" drückt sich vorwiegend in Geld ("Verdienst") aus. Geld ist also ein überaus wichtiger Wertmaßstab in der Gesellschaft, nicht nur für Güter und Dienste, sondern auch für die mit diesen Gütern und Diensten umgehenden Personen. Das Bewußtsein der Menschen, für ehrliche Arbeit ehrliches Geld zu bekommen, war noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu charakterbildend. Und die Stabilität des Geldwertes war auch ein Generationen übergreifendes Bindeglied für die Stabilität und den Zusammenhalt einer jeden Gemeinschaft.

Wird nun das Geld permanent wertlos gemacht, so löst sich sukzessive auch das Wertempfinden und das Wertverständnis der Gesellschaftsmitglieder auf. Inflation ist nicht nur ein Vernichtungswerk für materielle Werte, sondern auch für ideelle und moralische Werte. Etwas nüchterner sprechen die Ökonomen von einer "Veränderung der Zeitpräferenz der Individuen". Weil die Leute wissen, daß in einem inflationären Umfeld "morgen alles teurer" sein wird und daß Sparen sich nicht lohnt, weil die Ersparnisse im Zeitablauf immer wertloser werden, schätzen sie den Konsum in der Gegenwart zunehmend höher ein als den Konsum (und die Sicherheit) in der Zukunft. Die Zeitpräferenz driftet rasant aufwärts in Richtung des Heute und Jetzt: "Ich will alles - und zwar sofort!" Zugleich wird es immer einfacher und lohnender, sich Geld zu leihen, also Schulden zu machen, weil man erwarten kann, die Schulden später mit wertloserem Geld zurückzahlen zu können.

Inflation "geschieht" nicht einfach, sondern wird gemacht. Sie ist eine heimliche Steuer, die weit höher sein kann als die offizielle Steuerbelastung. Erzeugt wird sie von der Regierung und deren Zentralbank (samt anhängendem Bankensystem). Im reinen Papiergeldsystem kann Geld in beliebiger Menge "aus heißer Luft" geschaffen werden. Ab einer bestimmten Steuerbelastung der Bevölkerung sinkt der Steuerertrag, weil die Bürger Wege finden, Mehrbelastungen zu umgehen und zu vermeiden. Ab diesem Moment weicht die politische Kaste in ihrer uferlosen Ausgabenwut auf Haushaltsdefizite aus - und somit auf Staatsverschuldung. Das geschieht ganz einfach durch den Verkauf von Staatsschuldpapieren an das Publikum oder an Banken. Im ersteren Fall werden private Ersparnisse zu Staatsausgaben, in letzterem Fall wird Geld einfach aus dem Nichts geschaffen. Auf jeden Fall erhöht sich die umlaufende Geldmenge - und zwar, ohne daß sich zugleich die produzierte Gütermenge vermehrt hätte. Und wenn eine größere Geldmenge eine gleichbleibende Gütermenge jagt, dann entsteht als Folge dieser Inflation eine Güterpreisinflation. Und diese Preisinflation wiederum läßt die Kaufkraft der Einkommen und Ersparnisse der Bürger dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne. Die heimliche Steuer ist Raub, Diebstahl und Betrug von seiten des Staates an seiner Bevölkerung.

Staat und Regierung leben den Bürgern in großem Stil vor, wie man endlos Schuldenberge anhäuft und Verschuldung zur Tugend macht. So finden es schließlich auch die Bürger nicht mehr anrüchig, ihren gesellschaftlichen Status ("Mein Haus, mein Auto, mein Boot") mit Hypotheken und Krediten aller Art zu finanzieren. Schon die Kinder lernen aus dem Verhalten der Eltern und Verwandten, wie man das Heute angenehm gestaltet und das Morgen den Gläubigern überantwortet - alles in der sorglosen Hoffnung, es möge finanziell nichts Unerwartetes (Krankheit, Invalidität etc.) auf sie zukommen. Die Spanier haben dafür ein treffliches Sprichwort erfunden: Pan para hoy y hambre para mañana (Brot für heute und Hunger für morgen).

Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat beschleunigt diese Tendenz um ein Vielfaches. Zum Zweck des Machtgewinns und Machterhalts redet er den Leuten ein, sie könnten sich stets und für alle Zukunft auf sein "soziales Netz" verlassen, wenn beim Konsumrausch und bei der Schuldenmacherei mal etwas schiefgehen sollte. Auch die Vorsorge fürs Alter sei ziemlich überflüssig, denn die Rente sei "sicher". Auf diese Weise werden immer mehr Menschen in immer größerem Ausmaß abhängig vom Staat. Sie finden es deshalb auch nicht verwerflich, daß dieser Staat sich in astronomischen Dimensionen verschuldet, um die Stallfütterung des Stimmviehs weiterbetreiben zu können. Heute ist mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung in irgendeiner Weise Kostgänger der öffentlichen Hände und steht entweder auf deren Lohn- und Gehaltsliste oder hängt an einem Tropf der zahllosen Sozial- und Hilfseinrichtungen. Sparsamkeit und haushälterische Disziplin der politischen Kaste wäre für diese Bürger eine Katastrophe. Also bastelt man gemeinsam weiter an der papiernen Illusion vom endlosen Reichtum.

Wird das Geld permanent wertlos gemacht, löst sich sukzessive auch das Wertempfinden und das Wertverständnis der Gesellschaftsmitglieder auf. Inflation ist nicht nur ein Vernichtungswerk für materielle, sondern auch für ideelle und moralische Werte.

Mit dem staatlichen Papiergeld und seiner beliebigen Vermehrbarkeit aus "heißer Luft" läßt sich das kranke Spiel lange betreiben. Aber irgendwann endet jeder Rausch, auch der von der Droge Falschgeld (Papiergeld) erzeugte. Die schlimmste Wirkung der astronomischen Geldvermehrung (Inflation) - schlimmer noch als der permanente Kaufkraftverlust durch Erhöhung des Preisniveaus - ist nämlich die von ihr verursachte Verzerrung der relativen Preise, das heißt die Verfälschung der Preissignale für die Knappheitsrelationen der verschiedenen Güter untereinander, insbesondere beim Verhältnis von Investitionsgüterpreisen zu Konsumgüterpreisen. Die Kräfte des Marktes wollen stets zurück zum Gleichgewicht der echten Güterpreisverhältnisse, werden jedoch mit der Politik des "leichten Geldes" (sprich: der Inflation) immer wieder daran gehindert. Bis die Aufnahmefähigkeit der Märkte für neue Schulden erschöpft ist. Dann begeben sich diese Kräfte unerbittlich auf den Rückweg zum gesunden Gleichgewicht und lassen sich durch keine noch so große Liquiditätsschwemme der Notenbanken mehr aufhalten. Die Schere aus endlos steigender Inflation der Vermögensgüterpreise auf der einen Seite und der vom Globalisierungsdruck gemilderten geringeren Inflation der Konsumgüterpreise auf der anderen Seite (wie wir sie seit rund 25 Jahren kennen) kehrt sich nun um. Die Vermögenswerte zerfallen in langen Krisen - und die Kosten der Lebenshaltung schnellen inflationsgetrieben nach oben. In dieser umgekehrten Scheren-Falle wird alles zermalmt, was sich heute noch Mittelstand nennt. Und weil sich das alte Tugendgerüst der Gesellschaft im Konsum- und Kreditrausch aufgelöst hat, zeigen sodann schlangenköpfige Erinnyen ihre Häupter - und sie tragen die Namen Revolution, Diktatur und (Bürger-) Krieg.

Der bedächtige Wissenschaftler, Nobelpreisträger und weltbekannte Ökonom Friedrich A. von Hayek wußte sehr wohl, warum er in seinem letzten Werk so dringlich die Entstaatlichung des Geldes (Abschaffung des staatlichen Papiergeldmonopols) gefordert hat. Es gehe dabei, so Hayek, keineswegs nur um technische Veränderungen des Geldsystems, sondern um nicht weniger als den Fortbestand der Zivilisation. Das Zentralbankwesen und sein Papiergeldsystem ist in der Tat das, als was es der Bankier Ferdinand Lips bezeichnet hat: das größte Unglück in der Menschheitsgeschichte.

Roland Baader ist Nationalökonom und Sozialphilosoph. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den "Blinden Fleck der Eliten" (JF 27/06). Zuletzt sind von ihm im Resch-Verlag, Gräfelfing, die Bücher erschienen: "Geld, Gold und Gottspieler" sowie "Das Kapital am Pranger. Ein Kompaß durch den politischen Begriffsnebel".
(JUNGE FREIHEIT vom 22. September 2006)

Ich danke dem Verlag für die telephonisch erteilte Erlaubnis, den Artikel hier vollständig wiedergeben zu dürfen.
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