© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de
Ausgabe 27/07 vom 29. Juni 2007
Zum Seitenende Übersicht aktuelles Home & Impressum
Herr Hannan, auf dem EU-Gipfel vom Wochenende haben Polen und Großbritannien für sich Ausnahmen durchgesetzt. Ihr Land will etwa die europäische Grundrechtscharta nicht als verbindlich anerkennen. London hat ja bereits darauf verzichtet, den Euro einzuführen oder den Schengen-Vertrag zu unterzeichnen. Leben Ihre Bürger folglich schlechter als Deutsche oder Franzosen?
Hannan: Mitnichten. Nehmen Sie eben zum Beispiel den Euro: Die EU-Länder mit dem stärksten Wachstum sind Großbritannien, Schweden und Dänemark – ebenjene, die den Euro nicht eingeführt haben! Vor seiner Einführung haben uns die EU-Anhänger prophezeit, Großbritannien würde abgehängt werden, der Handelsplatz London würde veröden, wenn wir nicht mitzögen. Die Wahrheit ist: Heute findet in London mehr Handel in Euro statt als in der gesamten Euro-Zone! Niemand, der politisch ernstzunehmen ist, fordert heute bei uns noch den Beitritt zum Euro-System.
Wieviel Blair, der bekanntlich für mehr britische EU-Integration war, steckt im neuen Regierungschef Gordon Brown?
Hannan: Brown ist pragmatischer als Blair. Er wünscht sich wohl auch mehr Integration, aber er weiß, daß dies ohne ein Referendum in Großbritannien politisch nicht möglich ist – und mit einem erst recht nicht. Also spricht er das Thema erst gar nicht an.
Die deutsche Ratspräsidentschaft geht dem Ende zu, wie ist Ihr Resümee?
Hannan: Angela Merkel ging es vor allem um einen neuen Ansatz für den Verfassungsprozeß. Leider hat sie sich aber nicht – wie allerdings jede Ratspräsidentschaft vor ihr – um das viel drängendere Problem der Korruption in der EU gekümmert.
Sie gelten da als einer der prominentesten Kritiker.
Hannan: Weil wir zu unfaßbaren fast neunzig Prozent keine Kontrolle über die EU-Ausgaben haben! Weil enorme Geldbeträge in der EU verschwendet, abgezweigt oder veruntreut werden. Wäre die EU eine Firma, säßen alle Kommissare längst im Gefängnis! Und weil sich seit Jahren und Jahrzehnten nichts daran ändert. Erinnern Sie sich zum Beispiel an den enormen Korruptionsskandal, der 1999 zum Sturz der Kommission unter Jacques Santer führte? Erinnern Sie sich noch an die verschwundenen Gelder? Die Provisionszahlungen für geschobene Auftragsvergaben? Die Politiker, die Freunde und Verwandte auf die Gehaltsliste gesetzt hatten, wie etwa die Kommissarin Edith Cresson, die ihrem Zahnarzt einen lukrativen Beratervertrag verschafft hatte? Alles schon vergessen? Damals schwor man hoch und heilig: Nie wieder! Jetzt kommt eine neue Kommission, die aufräumt und aus den Fehlern lernt! – Tatsache ist: Nichts hat sich geändert. Als ich als Mitglied des EU-Parlamentsausschusses zur Aufklärung der Affäre EU-Kommissar Neil Kinnock, der mit der Aufarbeitung des Falles betraut war, fragte, wie viele Verantwortliche er entlassen habe, war seine Antwort – raten Sie! – : "Niemanden." Kein einziger EU-Beamter wurde entlassen! Immerhin zwei sind versetzt worden – aber nicht, weil sie betrügerische Handlungen verübt, sondern weil sie welche aufgedeckt hatten! Paul von Buitenen wurde zudem derart drangsaliert und schikaniert, daß er schließlich ganz kündigte. Die Rechnungsprüferin Marta Andreasen brachte ans Licht, daß die Buchführung der Kommission – von doppelter Buchführung natürlich keine Spur – mit Excel-Tabellen auf dem Rechner erfolgte, wo sie jederzeit einen Eintrag nachträglich löschen und verändern können, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber als sie dies öffentlich kritisierte, wurde nicht das Verfahren verändert, sondern sie entlassen.
Sie sagen, das war aber noch nicht das Schlimmste.
Hannan: Nein, was mich am meisten erschreckt hat, war der Fall des couragierten deutschen Journalisten Hans-Martin Tillack, der über die Fehler und Mißstände bei der EU-Antikorruptionsbehörde Olaf recherchierte, woraufhin seine Wohnung von der Polizei durchsucht, er verhaftet und neun Stunden ohne Kontakt zu einem Anwalt festgehalten wurde, während die Behörden in Ruhe seine Unterlagen sichteten. Kapiert? – Das war ein klares Warnsignal an die übrige Presse!
Korruption in der EU wird von vielen als kulturelles Phänomen betrachtet. Motto: Das bringen die Südländer in die Gemeinschaft. Sie widersprechen dem.
Hannan: Ja, das ist ein gründlicher Irrtum. Tatsächlich ist der Grad an Korruption in Brüssel so hoch, wie er selbst in Rom oder Athen nie akzeptiert würde. Es stimmt, selbst wenn jeder Quadratmeter in Italien für den Anbaum von Olivenbäumen genutzt werden würde, gäbe es nicht genug Olivenbäume, um die Subventionen zu rechtfertigen, die Italien dafür bekommt. Aber das gleiche gilt für die Weideflächen österreichischer Bauern. Beide reagieren lediglich – auf höchst menschliche und sogar rationale Weise – auf das Geldverteilungs-System, das wir in Brüssel installiert haben. Was die Korruption angeht, so ist die EU nicht durch die Südländer italienisiert, sondern wir alle sind durch Brüssel europäisiert worden. Ich erlebe es in meinem eigenen Wahlkreis: Ich muß dort mitansehen, wie sich anständige Bauern in Lügner, Fälscher und Betrüger verwandeln – denn das ist es, was sie tun müssen, um unter den Bedingungen des EU-Agrarsystems zu überleben. Brüssel leistet also nicht nur – schlimm genug – der Korruption innerhalb des EU-Apparats Vorschub, sondern infiziert darüber hinaus auch noch unsere Heimatländer mit diesem Virus.
Sie kritisieren, daß fast neunzig Prozent des EU-Haushalts – das sind 2007 140 Milliarden Euro – intransparent ausgegeben werden. Was heißt das genau?
Hannan: Das heißt nicht, daß fast neunzig Prozent veruntreut, verschoben oder verschwendet werden, daß heißt aber, daß wir bei fast neunzig Prozent keine Kontrolle haben, ob nicht genau das passiert.
Wieviel davon wird tatsächlich veruntreut, verschoben und verschwendet?
Hannan: Das weiß keiner. Aber daß wir für einen solchen Prozentsatz nicht garantieren können, ist ein untragbarer Zustand. Es ist eigentlich völlig unverständlich, daß dies nicht zu einem dauernden demokratischen Massenaufschrei in Europa führt.
Warum bleibt dieser Aufschrei aus?
Hannan: Es gab eine Zeit, da hat uns das – zumindest in Großbritannien – richtig wütend gemacht. Aber statt der Korruption kam nur die Aufregung darüber zum Erliegen. Offenbar haben wir das Inakzeptable akzeptiert: Daß die EU korrupt ist, erscheint uns inzwischen normal. Der US-Nobelpreisträger für Wirtschaft Milton Friedman sagte einmal, es gibt nur zwei Sorten Geld: "Mein Geld und dein Geld". Als nach der Tsunami-Katastrophe 2005 sich die Redner im EU-Parlament mit der Forderung nach immer höheren Hilfssummen für Südostasien gegenseitig überboten, schlug ein freundlicher Christdemokrat aus Italien plötzlich vor, außer dem Geld der Steuerzahler auch das Sitzungsgeld der Abgeordneten für diesen Tag zu spenden. Schlagartig kippt die Stimmung, und der Antrag kam nicht durch: Dieselben Leute, die nicht bereit waren, 290 Euro Sitzungsgeld zu spenden, nickten ohne Skrupel und im Bewußtsein der edlen Tat 1,5 Milliarden Euro anderer Leute als Spende ab! Unser Problem ist folglich, in Brüssel gibt es nur "dein Geld", denn anders als in London, Paris oder Berlin gibt es in Brüssel keine Verbindung zwischen "taxation and representation" – also Besteuerung und Ausgabenkontrolle, weil die EU von Transferleistungen lebt. Das Geld ist einfach da, ohne daß ich mich darum beim Wähler bemühen oder vor ihm rechtfertigen muß.
Auch Transferleistungen sind Steuergelder.
Hannan: Schön wäre es, wenn die Bürger das so sehen würden. Offenbar werden aber die Gelder, die an die EU fließen, von vielen einfach abgeschrieben. Viele tun das in der Vorstellung, diese Gelder seien Ausdruck der notwendigen Solidarität in Europa. – Nebenbei: Nicht einmal das ist so richtig. Raten Sie zum Beispiel, welches EU-Land die meisten Leistungen pro Kopf empfängt? Luxemburg! – Speziell bei meinen Kollegen aus Deutschland stelle ich eine Geisteshaltung fest, die mir noch direkt aus der Adenauer-Zeit zu kommen scheint: die Vorstellung, daß alles, was weg von Nationalstaat und angeblich hin zu Europa führt, per se gut ist. Die Deutschen sind geradezu in dieser Vorstellung gefangen. Daß sie gar nicht stimmt, weil die Demokratie nicht in Brüssel, sondern in Berlin, also nicht in der EU, sondern im Nationalstaat beheimatet ist, ignorieren sie einfach.
Warum?
Hannan: Ich werde niemals die Pressekonferenz vergessen, die ich zusammen mit Hans-Martin Tillack nach dessen Entlassung aus dem Polizeigewahrsam organisiert habe. Reihenweise kamen EU-fanatische Europaabgeordnete, um ihn zu verhöhnen, zu beleidigen und zu warnen: Er müsse aufpassen, daß er der EU-Skepsis nicht Vorschub leiste, er solle sich mit offener Kritik zurückhalten. Sie stritten gar nicht ab, daß er falsch behandelt worden war, aber nicht diesem Umstand, sondern dem, was sie für die europäische Sache hielten, galt ihre alleinige Sorge: Europa sei so wichtig, daß er seine Erfahrungen nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten solle, weil das dem Ansehen der EU abträglich sei. Das ist die Antwort auf Ihre Frage: In der EU dominieren die Leute, die diese als so glorreich betrachten, daß sie vor der Wahrheit die Augen zumachen. Wer sich traut, Kritik zu üben, bekommt die üblichen Vorwürfe zu hören: etwa den des Nationalismus. Fazit: Die Kritik verstummt. So schließt sich der Teufelskreis: Gerade weil man damit immun gegen Kritik ist, kann die politische Klasse in der EU tun und lassen, was sie will.
Die Aufgabe des Parlaments ist die Kontrolle der Regierung – der Kommission -, wieso ist in puncto Korruption das Engagement der Parlamentarier so unterentwickelt?
Hannan: Nach dem Prinzip der Gewaltenteilung muß zwischen Parlament und Regierung eine Spannung bestehen. Beide sollen sich schließlich gegenseitig kontrollieren. Dieses konstitutive Element der Demokratie existiert aber in der EU nicht. In Europa stehen Exekutive und Legislative, Kommission und Parlament, in einer Front. Warum? Das EU-Parlament ist demokratisch gesehen wenig repräsentativ. Die Abgeordneten sind in der Regel mit sehr geringer Wahlbeteiligung gewählt. Die meisten sind in ihren Wahlkreisen nahezu unbekannt. Mich haben bei meiner ersten Europawahl 1999 mit 24 Prozent weniger Bürger gewählt, als am nächsten Tag an der "Big Brother"-Abstimmung im britischen Fernsehen teilgenommen haben. Das Ergebnis dieser mangelhaften Aufmerksamkeit der Wähler – was Sie mit mangelnder demokratischer Kontrolle übersetzen können – ist, daß die Abgeordneten, die nach Brüssel entsandt werden, tendenziell zur Spezies der fanatischen EU-Apologeten gehören: "Right or wrong: It's Europe!" – "Richtig oder falsch, Hauptsache Europa!" Ich glaube aber nicht, daß sie mit dieser Einstellung die Haltung der Bürger in Europa repräsentieren. Schauen Sie sich nur die Ergebnisse bei Volksabstimmungen an, wenn es um den Transfer von Souveränität nach Brüssel geht: Fast immer stimmt die Mehrheit der Bürger mit "Nein"! Dänemark hat gegen Maastricht gestimmt, Irland gegen Nizza, Schweden gegen den Euro, Frankreich und die Niederlande gegen die EU-Verfassung. Doch fast nichts von dieser Haltung der Bürger spiegelt sich im europäischen Parlament wider. Es ist gespenstisch! Übrigens würde ich gerne wissen, wie das Ergebnis einer Volksabstimmung in Deutschland aussähe. Ich finde es nämlich bezeichnend, daß meine deutschen Kollegen sich allesamt stets zutiefst erschreckt ob dieser Vorstellung gezeigt haben.
Haben Sie die deutschen Abgeordneten darauf mal angesprochen?
Hannan: Da kommen dann die üblichen Einwände: Die Bürger verstünden Europa nicht, sie seien vorurteilsbeladen, sie stimmten mit dem Bauch, nicht mit dem Verstand ab etc. etc. Aus demokratischer Sicht sind das erschreckende Argumente. Offenbar gibt es einen signifikanten Unterschied in der demokratischen Kultur der Deutschen und Briten. Meine deutschen Kollegen benutzen oft das Wort "Populismus": "Daniel, was du da sagst, ist Populismus." Ich weiß nicht, kann sein – wir in Großbritannien nennen das Demokratie. Was meinen die Deutschen? Soll sich ein gewählter Volksvertreter wirklich schämen, weil er die Meinung seiner Wähler vertritt? In Großbritannien haben wir 300 Jahre gebraucht, um dieses Prinzip endlich durchzusetzen. Wenn die Wähler mit "Nein" abstimmen, dann sehe ich das nicht als ein Hindernis an, das überwunden werden muß, sondern als einen Grund, die Politik zu ändern. Die meisten deutschen EU-Abgeordneten, und nicht nur sie, stehen dagegen auf dem Standpunkt: Das Volk irrt. Das erinnert mich an das Wort von Bertolt Brecht, der einst spottete: Wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verspielt hat, sollte die Regierung das Volk vielleicht auflösen und ein anderes wählen.
Wie lautet also Ihr Fazit?
Hannan: Es heißt immer, die EU sei undemokratisch, ich würde mittlerweile sagen: Nein, sie ist antidemokratisch. Denn man findet hier all die Politiker wieder, die zu Hause abgewählt worden sind. Demokratie bedeutet immer auch Abwahl. Aber diese Leute gehen einfach nach Brüssel. Da tauchen sie, die das Volk nicht wollte, wieder auf und machen dann Gesetze, denen die unterworfen sind, die sie daheim abgewählt haben. Seit Brüssel werden die Bürger ungeliebte Politiker nicht mehr los.
Welche politische Schlußfolgerung ziehen Sie?
Hannan: Wir sollten die EU wieder zu dem machen, womit sie einst auch so erfolgreich war: eine Freihandelszone. Beginnen sollten wir mit der Repatriierung finanzieller Hoheit an die Nationalstaaten.
Haben Sie da Hoffnungen?
Hannan: Ich glaube, daß Deutschland das Land in Europa ist, mit dem wir Briten am meisten gemeinsam haben. Ich spreche nicht nur von den Interessen, sondern vor allem von Mentalität und Struktur. Deshalb ist, worauf ich am meisten hoffe, die Normalisierung des deutschen Patriotismus, damit Deutschland wieder ein normales Land wird wie jedes andere auch. Denn nur wenn sich die Bürger Nationalstaat und Demokratie wieder aneignen ist Brüssel noch zu stoppen.
gilt als einer der engagiertesten Kritiker des EU-Finanzwesens und Demokratiedefizits. Der britische Europaabgeordnete, der seit 1999 für die konservativen Tories in der Fraktion der christdemokratischen Europäischen Volkspartei/Europäische Demokraten sitzt, studierte Geschichtswissenschaft und veröffentlicht in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften wie dem Daily Telegraph, dem Spectator, dem Wall Street Journal, der Welt, dem Spiegel oder der Weltwoche. Geboren wurde er 1971 in Peru.
Mehrfachverbuchungen, getürkte Rechnungen, Unstimmigkeiten zwischen Agrarsubventionen und dem, was auf Bildern von Überwachungssatelliten zu sehen ist, oder kriminelle Absprachen zwischen Behörden und Betrügern in manchen EU-Mitgliedsstaaten – die Veruntreuung von Geld in der EU hat viele Erscheinungsformen.
Zu unterscheiden sind fünf Kategorien – Verschwendung: etwa das monatliche Pendeln des Parlaments zwischen Straßburg und Brüssel für 250 Millionen Euro im Jahr. Erschleichen von Subventionen: formal legal, in der Absicht aber betrügerisch. Betrug: Subventionen für nie erbrachte Leistungen. Korruption und Unterschlagung: Begünstigung gegen Bezahlung. Und Spesenrittertum: EU-Abgeordnete beziehen Aufwandsentschädigungen pauschal. 2005 beliefen sich die erkannten Unregelmäßigkeiten auf rund zwei Milliarden Euro, die Dunkelziffer wird weit höher geschätzt. So kritisieren EU-Parlamentarier, daß die Kommission mehrere hundert schwarze Konten unterhält, die niemand kontrolliert. Das EU-Budget beträgt 2007 140 Milliarden Euro, Deutschland zahlt 21,3 Milliarden.
Ich danke Herrn Hannan und dem Verlag für die Erlaubnis, das Interview hier vollständig wiedergeben zu dürfen.
Die Onlineversion steht im Archiv der JF.