Das Aufziehen von Kindern in Gefangenschaft

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Am Tor der Grundschule der Küstenstadt Birchington in Kent unterhält sich eine Gruppe von Müttern über ihre Kindheit. "Ich ging immer in den Wald und baute mir eine Hütte", sagt eine. "Ich mußte nur zuhause sein, bevor es dunkel wurde, wenn ich im Park war", eine zweite. Die anderen Mütter nickten. Alle erinnerten sich an die Abenteuer ihrer Kindheit – lange Tage unbeaufsichtigt von den Eltern. "Glückliche Zeit" sind sie sich einig.

Also erlauben sie ihren eigenen Kindern dieselben Freiheiten? "Das wäre unverantwortlich" entgegnet eine. Die anderen stimmen zu. Das weiteste, wohin ihre Kindern allein streifen dürfen, ist das Gartentor.

Was ist bloß in den letzten dreißig Jahren passiert? Die Gefahr einer Entführung bleibt winzig. Auf britischen Straßen sterben halb so viele Kinder bei Unfällen wie 1922 – trotz des fünfundzwanzigfachen Verkehrs [4].

1970 legten 80 % aller Grundschüler den Weg zur Schule allein zurück. Das machte man eben so. Heute liegt der Anteil unter 9 %. Es ist normal geworden, die Kinder zu begleiten.

Wir ziehen unsere Kinder in Gefangenschaft auf – ihr Lebensraum schrumpft fast täglich. 1970 durfte das durchschnittliche neunjährige Mädchen auf 840 Metern von der Haustür umherstreifen. Bis 1997 waren es 280 Meter. Inzwischen scheint die Grenze die Türschwelle erreicht zu haben.

In einem Garten in Birchington flechten Holly Prentice und Jojo Roberts, zwei beste Freundinnen, beide acht, Blumenketten. Der Jägerzaun markiert die Grenze ihres Freiraums. Sie würden es nicht wagen, sich darüber hinauszutrauen. "Du könntest entführt werden oder von einem Fremden mitgenommen", sagt Jojo. "Im Park könntest du vergewaltigt werden", stimmt Holly zu.

Sehnen sie sich nicht danach in den Wald zu gehen, auf Bäume zu klettern, sich dreckig zu machen? Nein, sagen sie mir. Der Wald ist schaurig. Auf Bäume Klettern ist gefährlich. Mit dreckigen Sachen bekommst du Ärger. Man fragt sich, was sie von Emil Tischbein, den Fünf Freunden oder den Kindern von Bullerbü halten [1] – erfundene Geschichten über merkwürdige Kinder aus einer anderen Zeit, einer Zeit der Abenteuer, in der Eltern ihren Kindern anscheinend erlaubten, den ganzen Tag draußen zu sein, und sich über etwas Matsch keine Sorgen machten.

Es gibt eine wachsende Sorge, daß die "Wattekinder" von heute in der Entwicklung behindert werden. Sie neigen dazu risikoscheu zu sein, erstickt von Ängsten, die mehr Phobien sind als als echte Gefahren. Ihr Mangel an unbeaufsichtigtem Spiel kann ihnen auch die Gelegenheit nehmen, in frühen Jahren enge Freundschaften zu schließen.

Belege, die auf der Good Childhood Inquiry der Children's Society vorgetragen wurden, deuten darauf hin, daß die Zahl der Kinder, die keinen besten Freund haben, von einem unter acht vor zwanzig Jahren auf eines von fünf heute gestiegen ist. Professorin Judith Dunn vom Institut für Psychologie ist Vorsitzende der Good Childhood Inquiry und glaubt, daß Freundschaften für die soziale und emotionale Kindesentwicklung unerläßlich sind. "Kinder, deren frühe Freundschaften von phantasievollem Spielen erfüllt sind, entwickeln Einfühlsamkeit indem sie moralische Dilemmata besprechen und lernen, die Gefühle, das Wohl und die Beziehungen anderer Kinder zu verstehen." begründet sie das.

Ein Mangel an engen Freundschaften unter britischen Kindern könnte sich in einem kürzlich erschienenen Bericht der Vereinten Nationen widerspiegeln, der enthüllte, daß das Vereinigte Königreich in internationalen Tabellen der Beziehungen zu Gleichaltrigen ganz am Schluß abschneidet.

Und die entsetzliche Geschichte der vierjährigen Madelaine, offenbar in Portugal entführt während ihre Eltern in einer nahegelegenen Gaststätte aßen, bedeutet wahrscheinlich, daß britische Eltern künftig ihre Kinder noch näher zu sich heranziehen.

Währenddessen sind Kinder schlaflos wegen des Klimawandels. Die Hälfte aller Kinder zwischen sieben und elf sind über die Wirkungen der globalen Erwärmung besorgt und schlafen deshalb oft schlecht, so ein neuerschienener Bericht.

Eine Untersuchung mit 1150 Jugendlichen ergab, daß jeder Vierte den Politkern die Schuld am Klimawandel gab während einer von sieben meinte, seine eigenen Eltern unternähmen nicht genug, um die Umwelt zu verbessern.

Die am meisten befürchteten Folgen der Klimawaerwärmung waren schlechte Gesundheit, das mögliche Versinken ganzer Länder und der Tierschutz. Die meisten der von der Supermarktkette Somerfield befragten verstanden die Vorteile des Recycling – allerdings meinte jeder zehnte, es habe etwas mit Fahradfahren zu tun. [2]

Pete Williams von Somerfield meinte: "Kinder sind den harten Tatsachen ebenso ausgesetzt wie jeder andere. Während viele Erwachsene wegsehen zeigt diese Studie, daß die Klimaerwärmung Kindern nicht erst in der Zukunft schadet, sie beinflußt ihr Wohlergehen schon jetzt."

Immerhin, es tut gut zu wissen, unsere eingekesselten Kinder haben jemand, der auf sie achtet. Joanna Williams, eine Wissenschaftlerin an der Christ Church Universität in Canterbury und Mutter von drei Kindern schrieb neulich:

Sie geben sich kumpelhaft als Kollegen der Mütter und Väter aus. Dennoch untergraben die family liaison officers an britischen Schulen die Lehrer und haben ein mißtrauisches Auge auf die Eltern.

Das erste Mal hörte ich vom family liaison officer als mir in der Morgenhektik beim Absetzen unserer Kinder in der Schule eine Mutter unter Tränen anvertraute, sie sei vom Rektor 'gebeten' worden, mit dem family liaison officer 'zu plaudern'. Zwei Tage später enthüllte eine andere Freundin genau dieselbe Nachricht. Was war das für ein family liaison officer, daß er zweien meiner Freundinnen, beide mit klugen, gesunden und vielgeliebten Kindern, irgendwie das Gefühl gab, als Eltern 'versagt' zu haben?

Britische Eltern werden sich an sie gewöhnen müssen. Wenn Ihre örtliche Schule noch keinen family liaison officer hat, bald wird sie einen haben. Die genaue Arbeitsplatzbeschreibung der officers ist schwer festzunageln. In Stellenanzeigen werden sie oft als neutrale Mittler zwischen Lehrern und Eltern dargestellt, die Familien helfen 'Zugriff auf wichtige Auskünfte zu erlangen'. Allison Shepherd, der familiy liaison officer an einer Schule in Thanet, Kent, beschreibt ihre Aufgabe als "Unterstützung, Hilfe und Freundschaft reichen und eine Verbindung zwischen Schule und Elternhaus zu sein". Jo Green von einer Grundschule in Folkestone ist genauso freundlich: "Meine Aufgabe ist, Ihnen zu helfen. Sollten Sie persönliche Sorgen haben oder Probleme im Zusammenhang mit der Schule bin ich hier als offenes Ohr."

Hinter der kumpelhaften Fassade von 'ich möchte nur dein Freund sein' ist es die Aufgabe der family liaison officers mit den Eltern der Kinder zu arbeiten, die als in ihrem Wohl gefährdet oder in Gefahr, ausgeschlossen zu sein, angesehen werden. Sie werden mit Eltern arbeiten, deren Kinder schwänzen oder sich danebenbenehmen und mit Eltern [sic!] [3] mit mangelnden Lese- und Rechenfähigkeiten.

Das Ziel 'Erziehungs und Familienuntertützung' bereitzustellen war erstmals im Green Paper "Jedes Kind ist wichtig" der Regierung aufgeworfen worden, das im September 2003 als Reaktion auf die Untersuchung des Mordes im Jahr 2000 an der achtjährigen Victoria Climbié durch ihre Tante und den Hausfreund ihrer Tante veröffentlicht wurde. Jedes Kind ist wichtig vertritt den Bedarf an 'spezialisierter Familienhilfe', die ein Sortiment von Hausbesuchsprogrammen mitbringt, um Eltern beizubringen, wie sie die Entwicklung ihres Kindes am besten unterstützen, und Elternschulen, um 'Verhaltentechniken' zu lehren.

Die Botschaft von Jedes Kind ist wichtig lautet, daß Eltern beaufsichtigt werden müssen und gelehrt, wie sie sich zu verhalten haben um keine potentielle Gefahr für ihre eigenen Kinder zu sein. Eine Zurückweisung der freundlichen Vorstöße des family liaison officer kann ausreichen, um das Kind als 'gefährdet' zu kennzeichnen und es können Zwangsmaßnahmen in der Form von Erziehungsanweisungen ergriffen werden.

Die Aufgabe des family liaison officer kann als eine Art dargestellt werden, Kinder, die als gefährdet angesehen werden, durch Unterstützung der Familie zu schützen, aber im Effekt bewirkt er allein, die Familien in jedem Stadium zu untergraben. Indem so nachdrücklich betont wird, daß Familien Hilfe benötigen, um die Alltagsaufgaben der Erziehung zu erfüllen (das Word "Unterstützung/unterstützen" erscheint 176-mal in Jedes Kind ist wichtig) ist die logische Folgerung, daß dies Eltern auf sich allein gestellt nicht zugetraut werden kann.

Beide meine Freundinnen wurden zu einem Gespräch mit dem family liaison officer gebeten, als ihre Kinder in eine kleinere Schulhofrauferei geraten waren. Schon die Tatsache, einen solchen Vorfall mit den 'Fachleuten' besprechen zu sollen, läßt erstens darauf schließen, ein Tritt in der Essensschlange sei etwas ungeheuer schlimmes, das die Einmischung von mindestens fünf Erwachsenen erfordert, und zweitens, es sei etwas, das Eltern nicht zugetraut werden kann, selbst klären zu können. Ihr Selbstvertrauen wird untergraben und die Autonomie der Familie wird infragegestellt.

Darüberhinaus untergräbt die Anwesenheit der family liaison officers die Autorität der Lehrer im Umgang mit zügellosen Schülern. In der nicht zu fernen Vergangenheit hätte sich der Klassenlehrer um einen geringfügigen Vorfall wie einen Fußtritt in der Warteschlange gekümmert, wenn er es denn überhaupt für nötig erachtet hätte. Gehen wir einige Jahre weiter zurück und jeder vernünftige Erwachsene hätte uns für den Gedanken, sich da einzumischen, ausgelacht. Eltern vetrauten den Lehrern, sich um solche kleinen Vergehen zu kümmern.

Eltern trauten den Lehrern auch zu, mit der Ausbildung der Kinder zurechtzukommen. Weit entfernt davon, den Lehrern mehr Zeit zum Unterricht zu lassen, verlangen die family liaison officers schriftliche Empfehlungen auszustellen und an formalisierten Mediationssitzungen teilzunehmen. Lehrer beschränken sich nicht mehr auf ihre Rolle Kinder zu unterrichten, sondern man erwartet von ihnen, daß sie die Erziehung der Kinder in ihren Klassen beurteilen. Der Zweck der Schule verschiebt sich von der Erziehung von Kindern hin zur (Um-)Erziehung der ganzen Familie.

Family liaison officers deuten auch darauf hin, Lehrer könnten kleinere Verstöße nicht selbst ahnden und Eltern und Lehrer könnten nicht miteinander reden ohne daß jemand drittes 'meditiert'. Das Verhältnis von Eltern und Lehrern zu formalisieren und die Notwendigkeit der 'Mediation' durch dritte zu unterstellen trägt nichts zum Schutz der Kinder bei. Viel zu viel Zeit wird für Warteschlangenschubser verschwendet, die weder gefährdet noch eine Gefahr für andere sind. Das zwanglose Feierabendgespräch auf dem Schulhof, in dem Eltern und Lehrer Bedenken ansprechen können, bekommt plötzlich einen ganz anderen Anstrich, wenn Eltern befürchten müssen, alles was sie sagen werde dem family liaison officer gemeldet.

Wir sollten auch nicht vergessen, daß die Rolle des family liaison officer aus der Strafverfolgung hervorgegangen ist, wo es deren Aufgabe war, in den Familien zu vermitteln um Verurteilungen zuverlässiger sicherzustellen. Die Einführung solcher Polizeimethoden in die Schulen ist ein Vorbote ungekannter Einmischung in die Unabhängikeit der Familien – statt Familien zu helfen untergräbt sie sie. Eltern, die zu einem Gespräch mit dem family liaison officer bestellt sind, werden dadurch nur weniger Zutrauen haben, ihre Kinder zu erziehen, wie sie es für richtig halten. Das kann unmöglich zum Vorteil für das Kind sein. Die beste Art für Schulen, die Familie zu unterstützen, ist, sie in Ruhe zu lassen und sich auf ihre Aufgabe für die Bildung zu konzentrieren.

Der mürrische alte Sack meint: Das gute daran ist, daß diese verhätschelten, ängstlichen, schuldbewußten Kinder nicht lange Kinder bleiben werden. Bald wachsen sie zu verhätschelten, ängstlichen, schuldbewußten Erwachsenen wie wir alle heran.

Und vergeßt nie:

Mit 4 ist Erfolg nicht in die Hose zu machen.
Mit 12 ist Erfolg Freunde zu haben.
Mit 17 ist Erfolg den Führerschein zu haben.
Mit 20 ist Erfolg Sex zu haben.
Mit 35 ist Erfolg Geld zu haben.
Mit 50 ist Erfolg Geld zu haben.
Mit 60 ist Erfolg Sex zu haben.
Mit 70 ist Erfolg den Führerschein zu haben.
Mit 75 ist Erfolg Freunde zu haben.
Mit 80 ist Erfolg nicht in die Hose zu machen.

Ich danke dem "mürrischen alten Sack" für die (ohne Lüften des Incognito) erteilte Erlaubnis, seinen Text übersetzen und hier wiedergeben zu dürfen. Das Original steht auf der Website des grumpy old sod.

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1
Im Original: Just William, Swallows and Amazons or the Famous Five Zurück
2
Im Englischen: cycling und recycling Zurück
3
They will work with the parents of children who truant or misbehave as well as parents with poor literacy and numeracy skills. Zurück
4
In der ersten Version dieses Textes war hier ein Schreibfehler: 1992. Das korrekte Jahr 1922 habe ich am 07-12-01 eingesetzt. Zurück