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In einem Beitrag für die WELT (14.12.) hat Ayaan Hirsi Ali, die ehemalige niederländische Abgeordnete und Autorin von "Mein Leben, meine Freiheit", den sogenannten gemäßigten Muslimen ihr Schweigen vorgeworfen. Überraschenderweise wurde ich als einer jener "gemäßigten" muslimischen Intellektuellen genannt, die die Geschehnisse in Saudi-Arabien (wo ein Vergewaltigungsopfer zu Stockhieben verurteilt worden ist) oder dem Sudan (wo eine Grundschullehrerin angeklagt wurde, weil sie Schülern erlaubt hatte, ihren Teddy nach dem Propheten zu benennen) nicht verurteilt hätten. Alldieweil zahle ich für meine jahrelange Kritik an Vorkommnissen wie diesen, indem ich weder nach Saudi-Arabien noch nach Ägypten, Syrien, Tunesien oder (aus Gründen, die mir bis heute nicht dargelegt wurden) in die USA einreisen darf.
Lassen Sie uns mit dem Koranzitat beginnen, das Ayaan Hirsi Ali ihrem Beitrag vorangestellt hat: "Wenn eine Frau und ein Mann Unzucht begehen, dann geißelt jeden von ihnen mit hundert Hieben. Habt kein Mitleid mit ihnen angesichts der Religion Gottes, so ihr an Gott und den Jüngsten Tag glaubt." (Koran 24:2) Was genau will Ayaan Hirsi Ali mit diesem Zitat sagen? Dass der Islam per se für Gewalt plädiert? Dass gewalttätige Muslime oder sogenannte islamische Regierungen, die undemokratisch handeln, in Wahrheit ausführen, was der Islam gebietet? Ihr Text macht die Botschaft deutlich: Der Islam ist eine archaische Religion, der Koran ist ein gewalttätiger Text, und der einzige Weg, den Islam zu reformieren, besteht darin, die Muslime zu "entislamisieren".
Doch ließen sich nicht Dutzende gewalttätige Passagen aus der Bhagavad Gita, der Tora, den Evangelien und Episteln zitieren, ohne deshalb gleich zu dem Schluss zu kommen, Hinduismus, Judaismus und Christentum seien per se gewalttätig? Ist es so schwer zu begreifen, dass es sich dabei um eine Frage der Interpretation handelt und dass eine Religion ihrem Wesen nach zu verurteilen nicht nur unfair, sondern zudem kontraproduktiv ist? Der inneren Dynamik von Reformen hilft es nicht.
Anders als Ayaan Hirsi Ali behauptet, habe ich (am 28.11.) sehr wohl einen Artikel über die Situation in Pakistan, Saudi-Arabien und im Sudan geschrieben. Es komme eine Zeit, schrieb ich, da man einen gestrengen Blick auf den Zustand des Rechtssystems in den mehrheitlich islamischen Ländern werfen und daraus einige zwingende Schlüsse ziehen müsse. Es ist schlicht eine Schande! Unbescholtene werden im Namen des Islam angeklagt, ins Gefängnis geworfen, manchmal geschlagen und manchmal hingerichtet, ohne dass Beweise gegen sie vorlägen und ohne dass sie sich angemessen verteidigen könnten. Eine Frau, Opfer einer Vergewaltigung, wird in Saudi-Arabien zur Angeklagten, während eine britische Lehrerin ins Gefängnis kommt, weil ihre Schüler einen Teddy "Mohammed" genannt haben! In Algerien haben jüngst zwei Selbstmordattentäter unschuldige Zivilisten ermordet. Wenn all das im Namen des Islam geschieht, worauf steuern wir dann zu?
In mehrheitlich islamischen Ländern wird das Rechtssystem oft für politische Zwecke und "religiöse Belange" missbraucht. Das Problem ist weit ernster und weitreichender als die Serie von Vorfällen, von denen die Medien berichten. Diese Länder brauchen eine profunde Reform. Sehen wir den Tatsachen ins Auge. Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung. Die Geschichte einer unschuldigen britischen Lehrerin zu instrumentalisieren, um zu zeigen, wie sehr uns "am Islam liegt", ist purer Unsinn und sollte ausnahmslos zurückgewiesen werden. Hat nicht der Prophet Mohammed gesagt, dass, was auf falschen Fundamenten gebaut ist, falsch ist? Wenn wir von solch inakzeptablen Zuständen in den Petromonarchien oder den armen islamischen Ländern lesen, können wir nicht schweigen. Dergleichen geschieht nicht im Namen der anerkannten Interpretationen des Islam. Denn dergleichen ist schlicht Unrecht, es ist schlicht antiislamisch.
Meine Verurteilung jedoch – so wie die anderer Intellektueller überall auf der Welt – wurde offensichtlich nicht gehört. Leider ist globale Information nicht gleichbedeutend mit effizienter Kommunikation. Sowohl im Westen wie in den mehrheitlich islamischen Ländern werden wir Zeuge einer Art selektiven Hörens. Man lädt die Leute dazu ein, nur zu hören, was ihre Vorurteile bestätigt oder sich in eine Ideologie fügt. Eine solche Polarisierung ist gefährlich, weil sie Feindseligkeit erzeugt. Dass eine Stimme wie die Hirsi Alis in den muslimischen Ländern nicht gehört wird, liegt nicht daran, dass sie irrelevante Frage stellte, sondern daran, dass ihre Kritik obsessiv, exzessiv und unilateral wirkt. Als wolle sie dem Westen schmeicheln – und der Westen fühlt sich geschmeichelt. Die Muslime jedoch sind für ihre Stimme taub.
Die Zukunft gehört jenen, die in der Lage sind, im Namen gemeinsamer universeller Werte konsequent selbstkritisch zu sein, und nicht blind dem Konstrukt einer "westlichen" oder "islamischen" Zivilisation anhängen. Wo immer Glaube und Prinzipien betrogen werden, muss das mit der gleichen Energie angeprangert werden: jene Muslime, die Unschuldige ermorden, bemitleidenswerte Frauen zu Gefängnis (oder zum Tod) verurteilen, ebenso wie jene demokratischen Gesellschaften des Westens, die unrechtmäßig in ein anderes Land einmarschieren oder foltern. Es wäre in der Tat gut, diese nicht selektiven – und nicht selektierten – Stimmen häufiger zu hören.
Prof. Dr. Tariq Ramadan ist Islamgelehrter und gilt als Vordenker einer muslimischen Reformation. Sein Großvater war der Gründer der Ägyptischen Muslimbrüder. Gegenwärtig ist Ramadan Forschungsstipendiat an der Universität Oxford.
© Global Viewpoint
Aus dem Englischen von Wieland Freund.
Ich danke Herrn Prof. Ramadan für die Erlaubnis, seine Antwort hier vollständig wiedergeben zu dürfen. Die Originalversion steht auf seiner Website und die deutsche Fassung in der Onlineausgabe der Welt.