Kein Gott, kein Judäa und Samaria

Von Tom Segev

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Der Terrorist, der in der vergangenen Woche acht Schüler der Yeshiva Merkas Harav ermordete, hätte sich kein symbolischeres Ziel aussuchen können. Der Natur der Dinge nach drückten die Schüler der Yeshiva ihren Schmerz und ihren Zorn in sehr politischen Worten aus. Der Vorfall war noch nicht vorüber, als einer von ihnen beinahe einem Fernsehreporter das Mikrofon entriss und schrie, dass Shimon Peres schuld sei: Peres gab den Terroristen Gewehre – er ist schuld an dem Mord.

Derlei Dinge können bei Live-Übertragungen vorkommen, und hierin liegt ein guter Grund, kein Rohmaterial zu senden, dass nicht der Übertragung in alle Welt würdig ist. Aber auch aufgezeichnetes und redigiertes Material ist nicht immer des Sendens würdig. Knesset-Abgeordneten der Rechten wurde diese Woche erlaubt, bedrohliche und peinliche Dinge zu sagen und sich gegenseitig darin zu überbieten, wer den spektakuläreren Racheakt an der Familie des Terroristen vorschlägt, an seinem Dorf, an den Bewohnern Ostjerusalems insgesamt, an den Arabern überhaupt.

Dies ist die wirkliche Gefahr des Terrors, dass er die niedrigsten Instinkte in den Leuten zum Leben erweckt und ihr Vermögen und ihre Bereitschaft blockiert, ihr Hirn zu benutzen. Es gibt auch die umgekehrte Reaktion: Familienangehörige eines in Gaza ermordeten Soldaten sagten, dass sein Tod keinen Sinn habe, dass er von vornherein nicht hätte dort sein sollen.

Es gibt nichts Fürchterlicheres als dieses Gefühl. Nicht viele sind in der Lage, es rational zu begründen. Insofern ist es nicht angemessen, ihnen ein Mikrofon unter die Nase zu halten, während der Tote vor ihnen aufgebahrt wird. Man muss ihnen Zeit geben zu überlegen, was, wenn überhaupt, sie im Fernsehen sagen wollen. Doch geht es hier nicht lediglich um einen Kurs in Medienethik; schließlich liegt hier eines der zentralen Dilemmata der israelischen Existenz begründet; wenige setzen sich mit ihm auseinander.

Familienangehörige der arabischen Terroristen trösten sich manchmal mit der Tatsache, dass ihr Sohn als „Shahid“ (Märtyrer) gestorben ist, und der Rabbiner, der acht Schüler seiner Yeshiva in Jerusalem verloren hat, sagte, dass sie in „Aufopferung für Gott“ gestorben seien. Auch säkulare Menschen brauchen das Gefühl, dass ihr Soldat nicht umsonst gestorben ist. Dies ist es, was jeder Verteidigungsminister seit Staatsgründung am Gedenktag für die gefallenen Soldaten in seinem jährlichen Rundbrief an die verwaisten Familien schreibt. Dies ist der Geist jener Worte, die Josef Trumpeldor zugeschrieben wurden: „Es ist gut, für unser Land zu sterben.“

Yitzhak Rabin sagte einmal auf einer der jährlichen Gedenkzeremonien für Josef Trumpeldor, dass es nicht gut sei, für unser Land zu sterben; es sei gut, für es zu leben. Seine Worte wurden damals als Wegscheide in der Beziehung der israelischen Gesellschaft zum Verlust eines Kindes betrachtet: er wurde privatisiert. Der Tod eines Soldaten gilt heute nicht mehr notwendigerweise als Verlust, der etwas zur Sicherheit des Staates beiträgt – z.B. wenn er in Gaza oder dem Westjordanland getötet wurde. Dies ist die verbreitete Einstellung unter jenen, die sich mit der politischen Linken identifizieren.

Aber auch in linken Kreisen gibt es viele Leute, die das erhabene Israelitum mit dem Dienst in der Armee identifizieren und ihre Söhne dazu ermutigen, sich freiwillig für Kampfeinheiten zu melden. Sie verabscheuen die Besatzung und die Unterdrückung der Palästinenser, hassen, was dort in ihrem Namen geschieht – doch ändert dies nichts an ihrem Stolz, wenn sie ihre Söhne bei der Abschlusszeremonie des Offizierskurses sehen. In vielen Fällen suspendieren sie ihre politische Einstellung und sind auch dann stolz auf ihren Sohn, wenn er in den Gebieten dient; auch wenn er dort tötet. Im Gegensatz zu den Gläubigen, gibt es für sie keine Quelle des Trostes: nicht Gott, nicht Judäa und Samaria. Sie können nur sich selbst beschuldigen. Normalerweise tun sie dies nicht. Nicht selten sind sie auch nach dem Tod ihres Sohnes weiter stolz auf seinen Armeedienst. In vielen Fällen opponieren sie weiter gegen die Fortdauer der Besatzung.

Es ist nicht leicht, dieses Phänomen zu erklären; im öffentlichen Diskurs findet es kein Echo. Vor diesem Hintergrund wurde der Historiker Ilan Pappe gefragt, ob er wolle, dass seine Kinder in der Armee dienen. Im Interview mit Eilat Negev, dass am Freitag in Yedioth Ahronot veröffentlicht wurde, antwortete Pappe, dass sie selbst darüber entscheiden sollten, aber er würde es vorziehen, dass sie nicht dienen. „Solange Israel eine Besatzungsarmee hat, eine recht brutale Armee, würde ich nicht wollen, dass sie ein Teil von ihr sind.“

Als Jude und Israel liebt er das Land sehr, sagte er, und will in ihm leben. Seinen Worten nach rüttelt er nicht am Existenzrecht des Staates, aber er liebt ihn ganz und gar nicht. Er hat eine Lösung: ein Staat all seiner Bürger, Juden und Araber. Dies ist eine Alternative, die die meisten Israelis ablehnen, auch die Mehrheit der Linken. Eben da die meisten von ihnen ihren Staat lieben.

(Haaretz, 09.03.08)

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