Kampf dem Fluch vom Sinai

Essay

Von Chaim Noll

Schon für Hitler waren die Christen nicht mehr als eine jüdische Sekte. Die Christenverfolgungen im Nahen Osten sind die direkte Folge des Judenhasses in der Region

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In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs – zu spät, um das Unheil abzuwenden – begann man im christlichen Europa und in Amerika zu verstehen, dass die Judenverfolgung der Nazis nicht nur den Juden galt, sondern auch dem Christentum – "logischerweise", wie Hitler erklärt hatte. Zu dem 1943 in New York erschienenen Band "The Ten Commandments. Ten Short Novels of Hitler's War Against the Moral Code" schrieb Hermann Rauschning, ein vom NS-Regime abgefallener früherer Mitkämpfer Hitlers, ein Vorwort unter dem Titel "Eine Unterhaltung mit Hitler", in dem er eine 1933 im kleinen Kreis gehaltene Hassrede des Nazi-Führers gegen das biblische Konzept des Humanen zitiert, gegen die "Sklavenmoral zum Schutz der Schwachen", gegen den "Fluch der sogenannten Moral".

Nicht wegen dieses Vorworts ist der Band "The Ten Commandments" in die Literaturgeschichte eingegangen, sondern wegen der Texte von Thomas Mann, Franz Werfel, Jules Romains, André Maurois und anderen bedeutenden abendländischen Autoren. Thomas Mann veröffentlichte in dieser Anthologie das wohl einzige Auftragswerk seines Lebens, die extra hierfür geschriebene Moses-Erzählung "Das Gesetz". Den Herausgebern und Autoren des Bandes ging es darum, westlichen Lesern die weltbedrohlichen Weiterungen von Hitlers Judenhass vor Augen zu führen: dass der Hass auf das Volk der mosaischen Bücher nur der Anfang einer viel rigoroseren Zerstörungsabsicht war, dass er sich folgerichtig auch gegen das Christentum richten würde, gegen Europa und jede Gesellschaft, die den biblischen Kanon des Humanen übernommen hat. Die Vereinigten Staaten standen vor der Frage, ob sie in den Krieg gegen Hitler eingreifen sollten. Auch damals musste eine zögerliche westliche Welt von der Notwendigkeit überzeugt werden, ihre Werte notfalls mit Gegengewalt zu verteidigen.

Thomas Manns Erzählung "Das Gesetz" war ein Politikum bei ihrer Entstehung, er wusste darum und schrieb sie 1943 in für ihn ungewöhnlicher Schnelligkeit, binnen zweier Monate. Er sah in den biblischen Gesetzen schlicht und einfach "das Abc des Menschenbenehmens". Der Versuch der Nazis, Europa "judenrein" zu machen, galt nicht nur den lebenden Juden dieser Tage, sondern dem durch sie symbolisierten Konzept, dem biblischen, und folglich auch dem Christentum. Denn dieses sei, so Hitler, "nichts als eine jüdische Sekte". Nach Rauschnings Zeugnis soll Hitler erklärt haben: "Die Geschichte wird unsere Bewegung als die große Schlacht für die Befreiung der Menschheit vom Fluche des Berges Sinai erkennen ... Wir kämpfen gegen den Fluch der sogenannten Moral. Gegen die Zehn Gebote, gegen sie kämpfen wir."

Seit damals müsste man im Westen wissen, dass offen erklärter Judenhass, die deklarierte Absicht, "das Judentum" oder "den zionistischen Feind" zu vernichten, eine weitere Absicht enthält: Die Christen werden die Nächsten sein. Sie müssen die Nächsten sein, weil das, was sie vertreten und verbreiten – trotz aller jüdisch-christlichen Differenzen -, doch immer biblische, also vom Ursprung her jüdische Botschaft ist. Wenn die palästinensische Hamas oder der iranische Präsident seit Jahren zur Vertreibung und Vernichtung der Juden im Mittleren Osten aufrufen – wen wundert es, dass diese Region auch immer christenfeindlicher wird?

Mit Erschrecken nimmt die westliche Welt zur Kenntnis, dass aus den Palästinensergebieten, aus dem Libanon, aus dem Irak und wo es immer geht, die Christen vertrieben werden, die wenigen, die es dort noch gibt. Die Kenntnisnahme führt noch lange nicht zu solidarischem Handeln oder auch nur tieferem Nachdenken über die eigene verfehlte Politik. Seit Jahrzehnten drängt die Europäische Union auf die Gründung eines palästinensischen Staates um jeden Preis. Eine wie selbstverständlich akzeptierte Forderung der Palästinenser war und ist die Evakuierung aller auf ihrem Gebiet lebenden Juden, also die Judenreinheit des palästinensischen Staatsgebiets. Niemand scheint auf die Idee gekommen zu sein, dass die Entfernung der Juden aus dem Gebiet des künftigen palästinensischen Staates nur der Auftakt zur Vertreibung der Christen sein könnte.

Doch genau das ist geschehen. 1995 unterzeichnete Israel unter starkem Druck der europäischen und amerikanischen Regierungen das Oslo-Abkommen, das der Palästinensischen Autonomiebehörde große Gebiete zu eigener Verwaltung übergab. Israelischen Staatsbürgern oder anderen Juden ist seither das Betreten dieser Gebiete untersagt. Noch dürfen die jüdischen Siedler in ihren befestigten, begrenzten, streng bewachten Gehegen leben, aber ein normaler Israeli wird, sollte er den Eintritt in die judenfreie Zone Gazas oder der Westbank versuchen, von der eigenen Polizei daran gehindert. Das Verbot gründet sich auf die Lebensgefahr, die einem Juden, sobald er palästinensisches Autonomiegebiet betritt, dort, als wäre es selbstverständlich, droht.

Kaum war die Bedingung der Judenreinheit für den künftigen Staat der Palästinenser zugesichert, begann die Palästinensische Autonomiebehörde (damals noch unter Arafat) die Christen aus den Gebieten zu vertreiben. Schon 2003 meldeten Beobachter die Massenflucht palästinensischer Christen, binnen weniger Jahre schrumpfte die christliche Bevölkerung der Palästinensergebiete von 110 000 auf 50 000, also auf weniger als die Hälfte ihrer früheren Zahl. Dieser Vorgang hält an, inzwischen sind weitere Tausende ausgewandert. Die meisten Christen fliehen ins Ausland, nachdem die palästinensische Selbstverwaltung ihr Land konfisziert oder andere gewalttätige Übergriffe gegen sie begangen hat. "Es gibt die klare Absicht, Bethlehem zu islamisieren", erklärte ein Sprecher des Lateinischen Patriarchen in Jerusalem. Man kann sich nur darüber wundern, warum diese Entwicklung viele europäische Christen bisher gleichgültig ließ, warum ihr ganzer Protest der Anwesenheit jüdischer Siedler galt, warum das Christentum so wenig innere Solidarität zeigte. Nach dem Schicksal der letzten Christen in Gaza – wo die Evakuierung der Juden inzwischen vollzogen wurde – fragt lieber niemand mehr.

Nur zögerlich, falls überhaupt, wird in Europa der Zusammenhang zwischen Judenhass und Christenverfolgungen verstanden. Wenn es bei den Nazis eine Art genereller Kulturhass war, ist es bei fanatischen Muslimen Glaubenshass. Aus Sicht orthodoxer Muslime haben Juden und Christen denselben Status in einem islamischen Staat: den von "dhimmis", von nur bedingt Geduldeten, Tributpflichtigen, potenziell Enteigneten. Im Koran bleiben Juden und Christen, obwohl sie gelegentlich "Leute des Buches" genannt werden, rechtlich gesehen den "Ungläubigen" gleichgestellt und damit zur Verfolgung und Vernichtung freigegeben. Sie wurden unter Umständen aus Nützlichkeitserwägungen in islamischen Reichen geduldet, doch immer wieder in der Geschichte auch einfach ausgetrieben oder abgeschlachtet. Durch die Jahrhunderte, unter verschiedenen islamischen Herrschern, kam es zu zahlreichen Juden- und Christenverfolgungen, nicht selten miteinander verbunden.

Heute werden Christen überall im Mittleren Osten verfolgt oder diskriminiert. Inzwischen sind die irakischen Christen hinzugekommen, rund 400 000 von ihnen mussten bisher ihr Land verlassen, um sich irgendwo ein erträgliches Exil zu suchen. Ein Ende dieses Exodus ist vorerst nicht abzusehen. Christen in der traditionell jüdischen Situation. Eine späte Annäherung in der Opferrolle.

Thomas Mann hatte den Zusammenhang erkannt. Der Band "The Ten Commandments. Ten Short Novels of Hitler's War Against the Moral Code" ist sechs Jahrzehnte später von aufschreckender Aktualität. Wird man diesmal verstehen? Das Dulden des islamischen Judenhasses ermutigt Christenverfolgungen. Nicht anders als vor einigen Jahrzehnten, da das Schweigen Europas zur Judenverfolgung der Nazis das christliche Europa an den Rand der Katastrophe brachte.

(© COPYRIGHT: Chaim Noll, 2008)
Der Autor ist Schriftsteller und Essayist

Literaturhinweis: "The Ten Commandments: Ten Short Novels of Hitler's War Against the Moral Code", herausgegeben von Armin L. Robinson, mit einem Vorwort von Hermann Rauschning. Simon and Schuster, New York 1943. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich

Ich danke Herrn Chaim Noll und Herrn Dr. Christoph Münz für die Erlaubnis, den Essay hier vollständig wiedergeben zu dürfen. Das Original steht auf den Seiten des COMPASS-Infodienst.

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