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Im Mai 1921 wurde die kleine jüdische Gemeinschaft im Land Israel von dem erschüttert, was man als „Pogrome“ bezeichnete; in ihnen wurde auch der Schriftsteller Chaim Yosef Brenner ermordet. Auch ein junger Student der Nationalökonomie von der Universität Berlin, der zu jener Zeit zu seinem ersten Besuch im Land Israel weilte, war erschüttert; aber sofort lernte, analysierte und schlussfolgerte er: keine Pogrome, sondern ein nationaler Aufstand. Im Land Israel, konstatierte er, gibt es zwei Völker mit nationalen Aspirationen, und das zionistische Ziel lässt sich nicht erreichen, ohne zu einer nationalen Übereinkunft mit den Arabern zu kommen, die im Land leben. Er war damals gerade einmal 22 Jahre alt, und es gelang ihm Distanz zu gewinnen und zu erkennen, was sonst keiner der Führer der zionistischen Bewegung erkannte. Er war mein Großvater, Chaim Arlosoroff.
Einige Jahre später, mit dem Doktor in Nationalökonomie und dem Angebot einer festen Stelle an der Universität, entschied sich Arlosoroff alles hinter sich zu lassen und ins Land Israel einzuwandern. Als promovierter Ökonom, Dichter und Denker, der bereits im Alter von 25 Jahren zionistische und sozialistische Abhandlungen veröffentlichte, sechs Sprachen sprach und bewandert war in der deutschen Kultur, wurde Arlosoroff zu einem Star innerhalb der zionistischen Führung der jüdischen Gemeinschaft im Land – an Macht nur noch von David Ben-Gurion übertroffen.
Sein breites Wissen und die Fähigkeit zu überlegener strategischer Analyse machten Arlosoroff über Nacht zu einem der stärksten Führer, die die zionistische Bewegung je gesehen hat: Er war der erste, der von dem zionistischen Projekt in Begriffen eines Projekts sprach, das sich praktizieren – und nicht lediglich erträumen – lässt. Immer wieder warnte er davor, die Rechte der Araber im Land Israel zu zertreten, und daher war er auch der lautstärkste und offensivste Kritiker der rechten Bewegungen im Land; nicht von ungefähr konzentrierten sie ihre Hetze auf ihn, und nicht auf Ben-Gurion.
Er kämpfte für die sozialistische Idee mit ökonomischen Mitteln, aber befasste sich auch mit der Verwandlung des Sozialismus in ein genuin wirtschaftliches Projekt. Er betrieb die Herstellung von Beziehungen mit dem britischen Hochkommissar und auch die Aufnahme von Kontakten mit Führern der arabischen Staaten, um das Fundament für den Staat auf dem Weg schaffen.
Er, der mit der deutschen Kultur aufwuchs und sie so verehrte, war einer der ersten, die Anfang 1933 warnten, dass die Machtübernahme der Nazis extrem gefährlich sei. Daher entwarf er einen Plan dafür, die deutschen Juden im Austausch für ihren Besitz ins Land zu holen. Es gibt manche, die meinen, dieser Plan, der letztlich im Rahmen der fünften Aliyah verwirklicht wurde, habe zu seiner Ermordung geführt.
Im Juni 1933, er war erst 34 Jahre alt, wurde Arlosoroff am Strand von Tel Aviv ermordet. Der Mord erschütterte den Yishuv bis hin zur Gefahr einer Spaltung. In heutigen Begriffen war dies ein noch schwereres Ereignis als die Ermordung Yitzhak Rabins. Im Nachhinein sind der Mord und der um ihn entstandene Sturm der Hauptaspekt, der sich im nationalen Gedächtnis zu der Person Chaim Arlosoroffs eingeprägt hat, und das ist schade. Denn Chaim Arlosoroff, mein Opa, ist es wirklich wert, dass man sich an ihn erinnert für das, was er war – und nicht nur wegen der Art und Weise, in der er starb.
(Haaretz, 17.06.09)