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Ausgabe 46/09 vom 06. November 2009
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Große Männer machen Geschichte. Die Jubelfeier zum Mauerfall letztes Wochenende in Berlin mit George Bush sen., Michail Gorbatschow und Helmut Kohl wirkte wie ein gigantisches Ausrufezeichen hinter diesem berühmten Satz. Und sie sollte wohl auch so wirken.
Da waren drei Heroen der Zeitgeschichte, nun in Ehren ergraut, deren kluges diplomatisches Zusammenspiel vor zwanzig Jahren die Weltpolitik entscheidend veränderte, die deutsche Wiedervereinigung einleitete, den Kalten Krieg beendete, letztlich zum Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetsystems führte. Und alles ohne einen einzigen Schuß aus irgendeiner Panzerkanone! Was für ein historisches Exempel, was für ein Vorzeigekapitel in den künftigen Lehrbüchern für Politiker und Politologen!
Aber machen große Männer wirklich Geschichte? Gerade die Ereignisse um den Mauerfall können einen auf sehr andere Gedanken bringen. Was ja heute beim Betrachten der einschlägigen Bilder und beim Studium der begleitenden Aufrufe und Verlautbarungen sofort auffällt, ist die spontane Wucht der Bewegung und parallel dazu die Hilflosigkeit der „verantwortlichen“ Politiker, welcher Couleur auch immer. Hier brach sich, so läßt sich ohne weiteres interpretieren, etwas von ganz tief unten Bahn, und keine „Maßnahme“ von oben, kein Trick und kein Herummanipulieren an irgendwelchen Ventilen konnte es aufhalten.
Keiner von denen, die damals etwas zu sagen hatten oder sagen zu haben glaubten, hatte einen sicheren Kompaß in der Tasche, keiner war Treiber, alle waren Getriebene. Das gilt natürlich in erster Linie für die östlichen kommunistischen Generalsekretäre, Politbüromitglieder, Stasi-Generäle. Keiner von ihnen hätte sich normalerweise gescheut, die Sache im alten bolschewikischen Maschinengewehr- und Panzerkettenstil zu regeln, wie kurz vorher noch die chinesischen Genossen eine ähnliche auf dem Tian'anmenplatz in Peking. Aber siehe da, es ging einfach nicht mehr.
Der Wind hatte sich gedreht, sämtliche Wetterhähne wiesen plötzlich in eine völlig neuartige Richtung. Für die Funktionäre tauchten auf dem Weg zur Alarmstufe eins und beim „Entscheidungen zur Durchführung bringen“ unerwartete Schwierigkeiten auf, die Befehlsstränge waren brüchig geworden, die Angst vor der Verantwortung ging um und lähmte den Apparat bis ins Moskauer Politbüro hinein. Die Obergenossen belauerten sich gegenseitig und begannen schon, persönliche Reduits für den Fall der Fälle aufzubauen.
Kein machtvolles Gorbatschow-Wort löste den entscheidenden Erdrutsch aus und schon gar nicht ein gemeinsames Manifest des Dreigestirns Bush-Gorbi-Kohl, sondern eine banale, mißverständliche Behördenmitteilung, nämlich Schabowskis Notiz auf der historischen Pressekonferenz. So und nicht anders geschieht Geschichte. Die Großen schreiten nicht stolz zum Gipfel der Entscheidung, sondern es passiert ein komisch befreiendes Stolpern über den Gipfelgrat hinaus, und von da ab geht es dann in heiteren Kaskaden munter hinab ins Tal der triumphalen Gefühle.
Was die Gegenspieler der Politbüros, die Leute vom Neuen Forum und vom Demokratischen Aufbruch, schließlich die westlichen Politiker betrifft, so waren sie der Lage nicht im entferntesten gewachsen, liefen den Geschehnissen immer nur hinterher. Man denke etwa an das Gestottere von Christa Wolf, Heiner Müller e tutti quanti auf der großen Alexanderplatz-Demo, wo sie in trauer Gemeinschaft mit Markus Wolf und Schabowski „den Sozialismus retten“ wollten. Und gar die westlichen Politiker und ihre Chefpublizisten! Die waren derart auf die angeblich Frieden stiftende Nachkriegs-„Ordnung“ fixiert, daß sie sich eine gründliche Änderung gar nicht mehr vorstellen konnten.
Mauerfall und die sich damit anbahnende Wiedervereinigung waren für sie lediglich „Störungen“ und „Risiken“, denen sie mit Fliegenklatsche und Feuerpatsche zu begegnen versuchten. Die Rolle, die damals Frau Thatcher und Monsieur Mitterrand gespielt haben, kann man nur als niederschmetternd bezeichnen. Bush sen., Gorbatschow und Kohl stehen im Vergleich dazu natürlich sehr viel besser da, es waren geistesgegenwärtige Abwickler, dies immerhin, aber Herren der Situation waren auch sie nicht. Sie begleiteten und beförderten, was ohnehin geschah, Herr war damals tatsächlich nur einer: das Volk, vor allem das deutsche Volk im Osten, das genau verstand, was die Stunde geschlagen hatte.
Es hatte immer schon so leben wollen, wie ein großes, begabtes und wirkmächtiges Volk in Mitteleuropa eben leben kann: auf hohem technisch-zivilisatorischem Niveau, mit guten Freiheiten ausgestattet und natürlich in einem einheitlichen, würdigen Staatsverband, der nicht Brüder und Schwestern künstlich trennte und entfremdete. Jetzt, da die Büttel sichtbar am Ende waren, ließ es sich nicht mehr einschüchtern. In gewaltigen Straßendemonstrationen mit sich klug steigernden Parolen bekundete es seinen Willen, und dagegen war kein Kraut gewachsen.
Unvergeßlich und heute noch die Seelen bewegend die wunderbare Friedfertigkeit und Disziplin dieser entscheidenden Demonstrationen, ihre Gutgelauntheit und Gutmütigkeit. Derartiges hatte es in der Weltgeschichte bis dahin nicht gegeben. Nirgendwo ein Abgleiten in grausame Massenpsychose, wie es solche Ansammlungen doch fast notwendig im Gefolge haben, nirgendwo Blut, Funktionärs-Demütigung, Rachegeschrei, überall nur Entschlossenheit, Kerzen, Bitt- und Dankgebet.
So also wurde der grausamen Tyrannis in Osteuropa das Ende bereitet. Schon kurz nach dem Mauerfall fielen Bulgarien, Rumänien, die CSSR; mehr oder weniger „samten“ die Vorgänge auch dort, sichtlich vom deutschen Vorbild inspiriert. Die Weltgeschichte hatte einen Riesensprung gemacht, und die sprichwörtlichen großen Männer konnten das nur noch paraphieren und mit ihren Unterschriften versehen.
Ich danke dem Verlag und Herrn Prof. Zehm für die Erlaubnis, den Artikel hier vollständig wiedergeben zu dürfen.
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