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Theodor Herzls kanonische Aussage nach dem ersten Zionistenkongress – „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet“ – ist seit langem zu einer abgegriffenen Formel geworden, weswegen ihre tiefere Bedeutung uns manchmal aus den Augen gerät. Diese kommt in den darauf folgenden Sätzen in Herzls Tagebuch zum Ausdruck, wo es heißt, der Kongress sei zu einer Nationalversammlung des jüdischen Volkes geworden, die heute nichts sei, aber eines Tages alles sein werde.
In dieser Analyse steckt die historische Errungenschaft des ersten Zionistenkongresses, der die Wiederherstellung des alten Glanzes forderte und die Wiedererrichtung einer jüdischen Repräsentation, die für jene Angehörigen des jüdischen Volkes sprechen sollte, die nach der Gründung eines Staates strebten. Bis zur Gründung der zionistischen Bewegung gab es zwar Einrichtungen, die im Namen der jüdischen Öffentlichkeit (Gemeinde) sprachen; es gab aber noch keine Körperschaft, die in der Lage war, im Namen der gesamten Judenheit zu sprechen. Die konkrete Bedeutung des Fehlens eines jüdischen Staates lag nicht nur im Fehlen einer territorialen Basis, sondern auch im Fehlen einer normativen Basis, die von jedem akzeptiert wird.
Gerade die rabbinischen Aussagen, die auf den Pluralismus und Liberalismus der jüdischen Tradition hinweisen („Wähle dir einen Rabbiner“, „Dies und jenes sind die Worte des lebendigen Gottes“ usw.), zeugen von der Abwesenheit einer einzigen bindenden Autorität. Dies wollte der Zionismus ändern.
Diese historische Errungenschaft des Zionismus trachten nun diejenigen zu erschüttern, die sich weigern, die Einfrierung des Siedlungsbaus zu akzeptieren. Die Rechtfertigung des Ungehorsams finden sie in rabbinischen Urteilssprüchen. Und wahrlich, unter den Bedingungen des Exils ermöglichten die rabbinischen Urteile – in Abwesenheit einer einzigen jüdischen Souveränität – den Zusammenhalt und das Überleben der Juden. Aber zu Zeiten des Bestehens eines jüdischen Staatswesens ist die Etablierung einer rabbinischen Autorität – sicherlich nicht der aller Rabbiner, denn schließlich stimmt nie der eine mit dem anderen überein, sondern der des einen oder anderen Rabbiners – ein Aufstand gegen die größte Errungenschaft des Zionismus.
Es war nicht leicht, diese nationale Autorität zu erringen. Die Entscheidung von Ze’ev Jabotinsky im Jahre 1935, nach seiner Niederlage in den Wahlen zum 19. Zionistenkongress aus der Zionistischen Weltorganisation auszutreten, und ebenso die Gründung von getrennten Untergrundorganisationen (ETZEL, LECHI) stellten die Fähigkeit der jüdischen Gemeinschaft (Yishuv), einen gemeinsamen Kampf zu führen und dabei einen Bürgerkrieg zu vermeiden, auf eine schwere Probe. Doch nach der Staatsgründung gewährleistete die harte Entschlossenheit von David Ben Gurion, dass der neue Staat eine einzige Armee bekam. Seine Entscheidung in der Frage der „Altalena“, an der man zu Recht einige Aspekte kritisieren kann, wurde am Ende nach ihrem Ausgang beurteilt: Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (ZAHAL) erhielten das alleinige Monopol zur legitimen Gewaltanwendung. Die Entscheidung zur Auflösung des PALMACH-Stabes, die ebenfalls kontrovers gewesen ist, gewährleistete, dass die Kommandanten der Armee die Befehle vom Verteidigungsminister erhielten und nicht bei ihrem Mentor in Ein Harod die Zustimmung einholen würden.
Dies waren schwere Entscheidungen, aber sie sorgten dafür, dass der Staat Israel eine einzige Armee haben würde und nicht einen Verbund von bewaffneten Milizen.
Man kann den Schmerz und die Not derjenigen verstehen, die das Siedlungswerk im ganzen Land Israel unterstützen. Doch der Ausdruck von Schmerz, so berechtigt er auch sein mag, kann kein Ersatz dafür sein, dass man anerkennt, dass der Judenstaat nur eine legitime Körperschaft besetzt, die befugt ist, die politischen Entscheidungen durchzusetzen. Wer dies nicht anerkennt, untergräbt die historische Errungenschaft des Zionismus, und die Alternative heißt Libanon.
Shlomo Avineri ist Emeritus für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem.
(Haaretz, 21.12.09)