Abkoppelung von Gaza – endgültig

Von Shlomo Avineri

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Auch wer nicht zu den Anhängern von Außenminister Avigdor Lieberman gehört, muss zugeben, dass seine Initiative, die europäischen Außenminister zu einem Besuch Gazas einzuladen, ein positiver und kreativer Schritt ist. Sie ist dazu angetan, auch die vollständige Abkoppelung Israels vom Gaza-Streifen zu markieren – einen Prozess, der noch nicht zum Ende gekommen ist, insbesondere wegen des Widerstands des Sicherheitsapparats, der dazu neigt, die Gaza-Frage allein unter dem engen sicherheitspolitischen Blickwinkel zu sehen, und von dem furchtbaren Schaden absieht, den die Blockade Israel einbringt.

Wenn Israel behauptet, es gebe kein humanitäres Unglück in Gaza, kann es – wie es in der Vergangenheit versucht worden ist – Besuche in Gaza nicht vermeiden. Es zeigt sich, dass Israel nach Jahrzehnten der Herrschaft in Gaza – die weder den Aufstieg der Hamas, noch die Aufrüstung und den Schmuggel verhindert hat – sich schwer damit tut, sich von dem Gefühl, der Herr zu sein, zu befreien. Nun könnte ausgerechnet der Außenminister diesen komplizierten Prozess führen, über dessen Beweggründe sich streiten lässt, der aber die Arbeit zu Ende bringen kann, die Ariel Sharon – mit breiter Unterstützung der Öffentlichkeit – begonnen hatte: sich von der Herrschaft über und der Verantwortung für Gaza zu befreien.

Nach der Räumung der israelischen Siedlungen fand sich Israel in einer absurden Situation wieder. Es kontrolliert den Küstenstreifen nicht mehr, hat jedoch – aufgrund des Beharrens , die Kontrolle über die Übergänge und die Küste zu behalten – eine Realität geschaffen, die schlimmer nicht sein könnte: Es übt keine Herrschaft aus, wird jedoch als verantwortlich betrachtet. Auch die irrsinnige, mit einem fundamentalen moralischen Makel behaftete Idee, über eineinhalb Millionen Bürger eine Blockade zu verhängen, um die Hamas zur Freilassung Gilad Shalits zu „zwingen“, hat sich als herber Fehlschlag erwiesen. Und die Auffassung, dass jedwede israelische Politik bestimmt, wer über die Palästinenser herrscht – und ob die Hamas oder Abu Mazen [Mahmoud Abbas] geschwächt oder gestärkt werden – ist nichts weiter als Überheblichkeit.

Wenn der Plan des Außenministers die Unterstützung des Ministerpräsidenten und des Sicherheitsapparats erhält und sich verwirklicht, wird Israel es der Europäischen Union ermöglichen, die Verantwortung für die Entwicklung von Infrastrukturen in Gaza und auch die Kontrolle über die Wareneinfuhr in den Küstenstreifen zu übernehmen, unter sicherheitspolitischer Abstimmung mit Israel. Die Konsequenzen sind komplex: Auch wenn die Europäische Union keine direkten Kontakte mit der Hamas unterhalten würde, ist doch klar, dass diese Schritte nicht ohne jegliche Koordination mit der Regierung Ismail Haniyehs vorbereitet werden könnten. Innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde und womöglich auch der Obama-Administration würde man über diesen Prozess nicht begeistert sein, aber er entspräche zweifellos den israelischen Interessen.

Das bleibt auch dann wahr, wenn einer der Beweggründe des Außenministers darin besteht, die Aussichten auf ein Abkommen zwischen Fatah und Hamas zu vereiteln, indem sich Gaza zu einer gesonderten Einheit entwickelt. Aber auch ohne diese Initiative sind alle Versuche, solch ein Abkommen zu erreichen, bislang gescheitert, und den Preis dafür haben die Bewohner des Küstenstreifens gezahlt – und Israel.

Der Staat Israel muss sich an die Idee gewöhnen, dass seine Grenze zu Gaza ähnlich der zu Syrien werden wird: Gaza wird Ausland werden. Die Tatsache, dass es in Gaza eine für Israel sehr unangenehme Regierung gibt, ist irrelevant. Auch in Damaskus herrschen nicht die Liebhaber Zions.

Die Idee, dass die Europäische Union die effektive Antwort für die Entwicklung Gazas übernehmen wird, sollte auch die israelische Linke unterstützen – selbst wenn es Lieberman ist, der sie vorgeschlagen hat. Wenn jemand darin europäischen Neokolonialismus entdecken will, ist er frei, dies zu tun. Wichtig ist, dass Israel, nachdem es die strategische Entscheidung zur Abkoppelung von Gaza getroffen hat – und dies beinahe zum Preis eines Bürgerkriegs -, diesen Vorgang zu Ende bringen muss. Und wenn die Europäische Union sich um die humanitäre Situation der Menschen in Gaza sorgt – dann soll sie die Verantwortung in ihre Hände nehmen.

Shlomo Avineri ist Emeritus für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem.

(Haaretz, 19.07.10) 

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