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Yitzhak Shamir irrte sich, aber Yitzhak Shamir war nicht blöd. Während seiner Zeit als Ministerpräsident war die Vorstellung, die Zeit arbeite zugunsten Israels noch nicht widerlegt. Die Sowjetunion war im Niedergang begriffen und brach am Ende zusammen. Die Vereinigten Staaten wurden zur einzig verbliebenen Weltmacht. Als Folge davon wurde die internationale Stellung Israels gestärkt, und Israels Feinde verloren die Fähigkeit, es militärisch anzugreifen. Die qualitätsvolle Masseneinwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion kräftigte Israel demographisch und wirtschaftlich. Eine neue Weltordnung, eine neue regionale Ordnung und eine neue innere Ordnung gaben ihm einen weiten sicherheitspolitischen Spielraum.
Als Shamir 1992 aus dem Ministerpräsidentenamt schied, hinterließ er so einen Staat, dessen strategische Stärke diejenige von fünf Jahren zuvor unermesslich übertraf. Shamir beging den Fehler, diese goldene Zeit nicht dafür zu nutzen, stabile politische Abkommen zu schaffen. Allerdings hatte Shamir Recht darin, dass während seiner Amtszeit der Versuch, am Status Quo festzuhalten, nicht aussichtlos war.
Das ist heute nicht der Fall. In der näheren Umgebung Binyamin Netanyahus gibt es manche, die sich nach Shamir zurücksehnen. Einige sehen in ihm eine Art israelischen Eisenhower, erinnern sich an seinen gewissen Erfolg und möchten das wiederholen: sich nicht bewegen, nicht verzichten, Zeit gewinnen; die subkutanen Prozesse zugunsten Israels laufen lassen, wie es in der Vergangenheit war; sich nicht in politische Abenteuer à la Rabin, Barak und Olmert verwickeln, sondern das nationale Haus von innen bauen, mit kühlem Kopf und langem Atem.
Sollte Binyamin Netanyahu ernsthaft die Option Shamir erwägen, sollte er noch einmal nachdenken. Er sollte noch einmal und noch einmal nachdenken. Das Meer ist nicht dasselbe Meer, die Araber sind nicht dieselben Araber, und die Welt ist nicht dieselbe Welt. Die Realität von 2010 ist unermesslich brutaler als die Realität von 1990.
1990 hatte Israel die Fähigkeit, in jedem Moment jedes Ziel im Nahen Osten anzugreifen. 2010 haben Israels Feinde die Fähigkeit, zu jedem Moment jedes Ziel im Staat Israel zu treffen. Die Hamas ist in der Lage, mit Dutzenden von iranischen Raketen, deren Reichweite 75 Kilometer beträgt und deren Sprengköpfe 150 Kilogramm schwer sind, das Zentrum Tel Avivs zu treffen. Die Hisbollah ist in der Lage, mit Tausenden von Raketen, darunter Scuds mit Sprengköpfen mit einem Gewicht von bis zu einer halben Tonne, das Herz Israels zu treffen. Syrien hat bedrohliche Fähigkeiten. So auch der Iran. Iran, Syrien, Hisbollah und Hamas umschließen Israel mit einem Kreis von Bedrohungen, die zu Zeiten Shamirs als Phantasiegebilde betrachtet worden wären.
1990 war das Gefüge des Nahen Ostens stabil. Es konnte zwei Golfkriege, zwei Intifadas und zwei begrenzte Kriege verdauen, ohne zu platzen. Der Grund: Die Vereinigten Staaten waren der König der Welt. Sie führten eine gemäßigte und kräftige regionale Koalition, die das strategische Gelichgewicht sicherstellte. 2010 ist das Gefüge im Nahen Osten nicht stabil. Die Vereinigten Staaten befinden sich auf dem Rückzug, und der Iran versucht, sie als regionale Großmacht abzulösen. Ägypten steht an der Schwelle einer neuen Epoche, der Irak steht an der Schwelle einer neuen Epoche, in Saudi-Arabien herrscht Ungewissheit. Die destabilisierenden Kräfte sind auf dem Vormarsch, während die stabilisierenden ins Hintertreffen geraten.
Das Bild ist klar: Das historische Zeitfenster, das sich in der Zeit Shamirs geöffnet hatte – und von diesem nicht genutzt wurde – schließt sich weiter zu. Zwanzig gute Jahre für den Nahen Osten neigen sich dem Ende zu. So auch zwanzig gute Jahre für Israel. Israel ist militärisch und politisch bedroht, wie es seit dem Kollaps der Sowjetunion nicht mehr bedroht war. Schon morgen kann sich die Lage verschlechtern.
Wenn die gegenwärtigen Prozesse ohne Störung weitergehen, werden sie zur Explosion führen. Niemand weiß, wann und wo die Explosion stattfinden wird. Aber früher oder später, im Süden oder im Norden, wird das Ereignis eintreten, das das dünne Eis, auf dem wir alle uns bewegen, zum Einbrechen bringen wird.
Auch die Schlussfolgerung ist klar: Netanyahu hat keine Option Shamir. Netanyahu hat keinen Status Quo, an dem er sich festklammern kann. Mangels einer politischen Initiative Israels, die den gegenwärtigen Trend anhalten kann, wird der Fall kommen. Die Kreuzung, vor der der Ministerpräsident steht, ist eine Wegscheide: nach da oder nach da. Wenn Binyamin Netanyahu kein Menachem Begin wird, wird er zu einer Golda Meir.
(Haaretz, 22.07.10)