Mehr Schatten als Licht

Abgrenzung und Integrationsverweigerung ist für viele unqualifizierte Einwanderer der dritten Generation die einzige Quelle des Selbstwerts. Wollen wir das wirklich dulden?

Von Gunnar Heinsohn

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Zwei gleichaltrige Jungen wachsen in einer anatolischen Kleinstadt auf. Beide haben arme Eltern ohne höhere Schulbildung. Der eine macht mit 18 Jahren ein glänzendes Abitur. Viele bewundern das, erklären kann es allerdings keiner. Der andere hat zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre mit gering bezahlten Gelegenheitsarbeiten hinter sich, denn wegen schlechter Zensuren verfügt er gerade mal über den Mindestabschluss, wie die Mehrheit seines Jahrgangs.

Der Abiturient strebt in die Hauptstadt oder gar nach Istanbul zum Studium und macht Karriere im Staatsdienst. Er scheint alle Trümpfe in der Hand zu haben und denkt nicht einmal im Traum daran, seinen Lebensweg mit dem Schulversager zu teilen. Mit einer Mischung aus Stolz und Mitleid blickt er auf ihn herab. Niemand verlangt, dass er sich an diesen Pechvogel bindet.

Doch plötzlich kommt auch für den Gescheiterten eine Chance. In Westeuropa sucht man Arbeiter. Im Alter von 20 Jahren fängt er dort an und verdient umgehend ein Mehrfaches dessen, was sein hochbegabter Landsmann während seines Referendar-Dienstes in Ankara bekommt. Zwischen beiden steht es jetzt nicht mehr eins zu null für den Studenten, sondern irgendwie eins zu eins, weil die guten Schulnoten des einen aufgewogen werden durch das höhere Einkommen des anderen. Beide können zufrieden sein.

Gleichwohl hat der Migrant beim Überschreiten der Grenze nur seine Finanzen verbessert, nicht jedoch seinen Bildungsstand. Die schlechten Schulnoten schaden ihm hinter der Grenze nicht. Er wird in der neuen Heimat dadurch weder bevorzugt noch benachteiligt, genießt weder einen Ausländerbonus, noch wird er mangels Bildung diskriminiert.

All das bleibt unauffällig, bis der Ausgewanderte, inzwischen arbeitslos geworden, eine Familie gründet. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seine mangelhaften Zensuren an den Nachwuchs weitergibt, liegt zwar keineswegs bei 100 Prozent, ist aber hoch.

Denn Intelligenz wird nicht eins zu eins von den Eltern auf das Kind vererbt. Es ist die "Erblichkeit von Intelligenzunterschieden" (Elisabeth Stern, "Zeit", 2.9.10), die eine Gruppe von der anderen absetzt. Aber aus den Gruppen steigen immer wieder Individuen auf oder ab. So richtig es ist, dass spezielle Förderung so gut wie allen hilft, so erklärungsbedürftig bleibt, warum auch ungünstige Milieus trotz ausbleibender Förderung immer wieder mit Talenten überraschen. Man kann eine Gruppe mit einem Intelligenzquotienten von 65 durch Kitas und Schulen auf einen IQ 85 bringen und eine 80er-Gruppe auf einen IQ von 95. Das wird in den Medien auch brav ausgebreitet. Aber eine durch besseren Unterricht geförderte 95er-Gruppe auf einen IQ von 115 zu bringen, was in vielen Disziplinen Spitzenleistungen ermöglicht, gelingt nicht, weshalb es dazu in den Medien ganz leise wird.

Wenn nun der erste Sohn des Arbeitsmigranten mit 15 Jahren ohne Abschluss die Schule verlässt, wiederholt er oberflächlich die Karriere des Vaters. Auch im Vergleich zu den Ausnahmeschülern seiner ethnischen Gruppe in der neuen Heimat scheint er ganz ähnlich dazustehen wie damals sein Vater in Anatolien. Anders als sein Vater aber kann er das "eins zu null" für den Abiturienten nicht mehr durch Aufnahme einer gut bezahlten Arbeit in der Ferne ausgleichen. Die Lage des Sohnes ist mithin ungleich schwieriger. Er steht für sein weiteres Leben mit dem Rücken zur Wand.

Da wir nicht als wandelnde Niederlage durchs Leben gehen können, suchen wir Vorwände, hinter denen wir unsere Schwächen zu verstecken können. So mögen vorzeitige Schulabgänger die Vorstellung entwickeln, dass sie keineswegs Gescheiterte sind, sondern wegen ihrer Herkunft und ihrer Religion diskriminiert werden. Über eine solche Ausflucht verfügte der Großvater – soweit er nicht Kurde oder Alewit war – in Anatolien natürlich nicht. Wenn nun die Mehrheitsgesellschaft eine solche Selbstinterpretation glaubt oder sie durch Integrationsarbeiter den Betroffenen sogar aufdrängt, ist die neue Existenz in eine rückwärtsgewandte Türkenseligkeit schon halbwegs etabliert.

Die religiöse Indifferenz der ersten Generation weicht also in der zweiten zunächst einmal nur einem defensiven islamischen Trotz. Wenn dann auch diese Generation ohne ausreichende Schulbildung Familien gründet, werden die eigenen Kinder von vornherein zu National- und Glaubensstolz erzogen. Selbst ein als begabt eingestufter Nachwuchs wird dann offensiv an das eigene Milieu gebunden. Die Enkel treten also nicht mehr angepasst wie die Großväter oder unsicher suchend wie die Väter, sondern in stolzer Selbstabgrenzung vor die Mehrheitsgesellschaft. Wo die Großväter die Deutschen respektierten und die Väter ihnen auswichen, sehen die Enkel in ihnen Nazis, Schweinefleischfresser und Schlampen, zu denen sie niemals gehören wollen.

Die Mehrheitsgesellschaft versteht zumeist nicht, dass der eingeforderte Verzicht auf solche Haltungen diese jungen Migranten nur von Neuem mit dem Rücken an die Wand drängen würde. Ihre Integrationsverweigerung ist ja kein Selbstzweck, sondern soll ein Selbstwertgefühl bewahren, für das persönliche Leistungsressourcen fehlen. Solche jungen Türken verhalten sich durchaus ähnlich wie deutsche Schulversager, die durch Nationalismus eine Größe erlangen wollen, die das eigene Potenzial nicht hergibt.

Deshalb lassen sich solche Migranten auch nicht dadurch fördern, dass die Mehrheitsgesellschaft immer wieder beteuert, "keine erzwungene Assimilation oder das Leugnen der eigenen Wurzeln" zu verlangen (Angela Merkel am 3. September 2010). In der Hoffnung, dass eines Tages doch noch gute Leistungen gezeigt werden, unterstützt man eine Verweigerung, die eine längst gescheiterte Lernkarriere gerade kaschieren will. Denn könnten die jungen Leute auf Erfolge verweisen, würden sie kaum in religiösen oder nationalen Extremismus verfallen. Da von unseren Türkischstämmigen immerhin 76 Prozent ohne Ausbildung bleiben, mit ihren Kindern aber von der Mehrheitsgesellschaft bezahlt werden müssen, verliert diese zunehmend ihre Zuversicht und gewinnt auf einmal die eigene Nationalität viel lieber, als sie müsste – echauffiert sich also unter ihrem Niveau.

Die 24 Prozent hiesiger Türken, die qualifizierte Abschlüsse erreichen, haben diesen aggressive Gruppenstolz nicht nötig. Sie sind deshalb auch viel schwerer zu "beleidigen". Allerdings gebietet es der schlichte Anstand, auch für die abgeschlagenen Landsleute Sympathiebezeugungen ("wir Muslime", "wir Türken") abzugeben. Mancher Politiker verkennen jedoch die großen Unterschiede zwischen beiden Gruppen, und glauben, dass man die Integration der Erfolgreichen gefährdet, wenn man von den Gescheiterten mehr Eigenleistung fordert.

Zu diesen türkischen Leistungsträgern gehören viele Alewiten. Sie verlassen die Türkei nicht vorrangig wegen schlechter Ausbildung, sondern fliehen vor Diskriminierung. Es sind Kinder solcher Flüchtlinge, die daheim oft nicht studieren können, aber hier ermuntert durch kostenlose Ausbildung umgehend Gymnasien besuchen und studieren. Sie realisieren ein längst vorhandenes, aber brach liegendes Potenzial. Verständlich, dass Integrationsfunktionäre sich flugs mit diesen Federn schmücken! So verblüfft die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan die Öffentlichkeit mit einem Anstieg der qualifizierten Abschlüsse von 800 Prozent seit Beginn der Türkeneinwanderung . Dahinter steckt zu einem guten Teil die Hebung brach liegenderTalente durch das gebührenfreie deutsche Bildungssystem. Zugleich aber stieg etwa in Berlin der Sozialhilfebezug der Einwanderer von anfänglich weniger als einem Prozent auf knapp 50 Prozent aller Türkischstämmigen (DIW/Karl Brenke 2008). Wir haben es also mit einem Anstieg von 5000 Prozent zu tun. Wer das unterschlägt, begreift dann die Debatte nicht mehr.

Die Spitze der türkischen Alewiten wiederum ähnelt den Iranern in Deutschland. Die fliehen vor islamistischer Entmündigung durch ihre Mullahs ja gerade deshalb, weil sie über religiöse Identitätskrücken längst hinaus sind, von ihnen also nicht gestützt, sondern behindert werden. Bei ihnen handelt es sich um eine Minderheit, die über lange Zeiträume hinweg auf ähnliche Weise aufgestiegen sind wie unser Abiturient aus der anatolischen Kleinstadt oder die Arbeitertochter aus Rheinland-Pfalz.

Hätte in der Türkei ähnlich wie im Iran ein islamistischer Putsch stattgefunden, dann wären aus Istanbul die Besten nach Berlin geflohen. Stattdessen hat Deutschland vorrangig Unqualifizierte angeworben. Eine türkische Minderheit aus gebildeten politischen Flüchtlingen hätte wahrscheinlich – wie jetzt die iranische – bessere Abiturnoten vorgelegt als der hiesige Gesamtdurchschnitt. Alle hier erfolgreichen türkischen Sunniten sind genauso gut wie Alewiten imstande, diesen Zusammenhang nachzuvollziehen. Denn auch sie gehören ja zu denen, die selber kaum Kinder haben, und ihre Schulbildung verweigernden Glaubensbrüder mitfinanzieren müssen.

Wie die Mehrheitsgesellschaft fürchten sie, dass gerade durch das Aufbringen immer größerer Summen die Probleme noch wachsen werden. An die 100 000 Euro bis zum 18. Lebensjahr für bald 200 000 Kinder aus jedem Jahrgang sollen die Nachbarn für Edelkrippen, Spezialkitas, Coaches, Lotsen, Therapeuten, Sozialgeld, Schulen, Nachhilfelehrer etc. aufbringen. Um dem Schritt in die Integrationsverweigerung zuvorzukommen, sollen die Kinder schon mit 18 Monaten dem Einfluss ihrer Eltern zumindest partiell entzogen werden, damit sie später fähig sind, auf nationalistische Parolen nicht mehr hereinzufallen. Doch nicht einmal der Bundespräsident gibt eine Garantie dafür, dass mit all diesen Programmen tatsächlich Heere von Abiturienten gewonnen werden können.

Das Gefühl der Aussichtslosigkeit rührt daher, dass jeder legal in Deutschland Lebende ohne Einkommen bis ans Ende seiner Tage von den Mitbürgern für eine menschenwürdige Existenz bezahlt werden muss. Das Problem kann sich mithin niemals auswachsen. Die 25 Prozent unserer 15-Jährigen, die bereits 2009 von der Bundesregierung als nicht ausbildungsreif bezeichnet werden und ganz überwiegend selbst schon von Sozialgeld leben, wechseln bald in die Langzeitarbeitslosigkeit über und haben dann alle Zeit der Welt für eigenen Kindersegen.

Der niederländische Weg, bei einer Höchstsumme von 3000 Euro für eine hilfebedürftige Familie Schluss zu machen, ist hier ausgeschlossen. Bekommt eine Sozialhilfefamilie in den Niederlanden noch ein weiteres Kind, gibt es für dieses kein Extrageld. Faktisch wirkt das als Kürzung für alle Familienmitglieder und dämpft den Impuls, das Einkommen durch Neugeborene zu vermehren. Bei uns jedoch ist der Hilfeanspruch an die Person gebunden. Seine Übertragung an das Familienkollektiv verletzt das Gleichheitsprinzip und ist deshalb verfassungswidrig. Unakzeptabel ist auch der amerikanische Weg, der seit 1997 nur maximal fünf Jahre Sozialhilfe vorsieht und damit die Geburtenzahl bei bildungsfernen Hilfeempfängern bis 2005 um 70 Prozent gesenkt hat. Die Amerikaner verletzen zwar nicht das Gleichheitsprinzip, aber wegen der fehlenden lebenslangen Versorgung die Menschenwürde. Das gilt auch für andere Regierungen, die Zuwanderer erst einmal fünf oder zehn Jahre von der Sozialhilfe ausschließen. Was Den Haag oder Washington machen, wäre in Deutschland strafbar.

Gleichwohl kollidiert unser Verfassungspatriotismus mit der Versorgungskraft des vergreisenden Restes. Wird deshalb das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes bald in Frage gestellt werden? Oder werdenVerfechter einer Reform als Verfassungsfeinde am Pranger landen?

Prof. em. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn ist Diplomsoziologe in Bremen

Ich danke Herrn Prof. Heinsohn für die freundliche Erlaubnis, den Essay hier vollständig wiedergeben zu dürfen. Die Originalversion steht in der Onlineausgabe der Welt.

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