Der wirkliche Knüller von Assange

Von Ari Shavit

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Julian Assange ist ein gefährlicher Verbrecher. Der seltsame Mann mit dem langen blonden Haar und dem misanthropischen Gesichtsausdruck ist nicht nur ein Informationsterrorist neuer Art. Er ist nicht nur ein trügerischer Anarchist, der die größte Macht der Erde erniedrigt. Er ist nicht nur ein hemmungsloser Größenwahnsinniger, der die moderne Diplomatie verdirbt und die globale Ordnung erschüttert. Julian Assange ist ein gefährlicher Verbrecher, weil er das herrschende Dogma in Bezug auf alles, was das Verständnis des Nahen Ostens im 21. Jahrhundert betrifft, aufgesprengt hat.

Das Dogma besagt folgendes: Das Kernproblem im Nahen Osten ist der israelisch-palästinensische Konflikt. Das Kernproblem innerhalb des israelisch-palästinensischen Konflikts ist die Besatzung. Das Kernproblem der Besatzung sind die Siedlungen. Demzufolge müsse man lediglich die Siedlungen stoppen, damit die Besatzung verschwindet, der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst und der Nahe Osten stabil wird.

Im vergangenen Jahrzehnt wurde das Dogma fixiert und heilig gesprochen. Es wurde zu einer Art unerschütterlichem Glaubenssatz. Dies war die Wahrheit, auf die man sich im Weißen Haus, im Elysee-Palast und in Downing Street Nr. 10 einschwor. Dies war die Wahrheit, von der in der Washington Post, in Le Monde und im Guardian berichtet wurde. Dies war die Wahrheit von höchstem moralischem Gewicht, die die Weltanschauung der aufgeklärten Eliten im Westen geprägt und die Politik der westlichen Mächte geleitet hat.

Dann kam Julian Assange und sprengte das Dogma. Die geheimen Berichte, die WikiLeaks veröffentlicht hat, beweisen, dass nicht die Siedlungen, nicht die Besatzung und nicht der israelisch-palästinensische Konflikt die Kernprobleme des Nahen Ostens sind. Die geheimen Emails beweisen, dass die Welt, über die man in Washington, Paris und London spricht, eine Phantasiewelt ist. Assange hat bewiesen, dass keinerlei Verbindung besteht zwischen dem wirklichen Nahen Osten und dem Nahen Osten, von dem man in der Washington Post, in Le Monde und im Guardian spricht. Er legte die Tatsache offen, dass die gesamte arabische Welt heute nur mit einem einzigen Problem beschäftigt ist: Iran, Iran, Iran.

Kein Zweifel: Julian Assange ist ein gefährlicher Verbrecher. Allerdings ist Assange nicht gefährlich, weil er in das Informationssystem des Pentagon eingedrungen ist, sondern weil er den Mangel an intellektueller Geradlinigkeit der westlichen Intelligenz offengelegt hat. Assange ist nicht gefährlich, weil er in nicht gekanntem Ausmaße Staatsgeheimnisse hat durchsickern lassen, sondern weil er vor uns allen aufgedeckt hat, dass der hegemoniale Diskurs im Westen oberflächlich und verlogen ist. Assange ist nicht gefährlich, weil er die Bündnispartner des Westens blamiert hat, sondern weil er bewiesen hat, dass der Westen von einer politischen Korrektheit befallen ist, der ihn von der politischen Wirklichkeit abschneidet. Assange hat uns allen einen riesigen Spiegel vor das Gesicht gehalten, der zeigt, wie dumm wir in den vergangenen Jahrzehnten gewesen sind. Ein falsches Dogma hat uns daran gehindert, die historische Herausforderung zu erkennen, die vor uns steht.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Siedlungen sind in der Tat ein Unglück. Die Besatzung ist unerträglich. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist gefährlich. Aber nachdem der Misanthrop uns die Augen geöffnet hat, dürfen wir sie nicht wieder verschließen. Man muss die geheimen Emails immer wieder lesen und verstehen, was sie besagen. Es gibt keine Chance für den gegenwärtigen diplomatischen Prozess, sagen sie. Es gibt keine Chance für die Unterzeichnung eines israelisch-palästinensischen Friedensabkommens, solange Abu Mazen [Mahmoud Abbas] im bedrohlichen Schatten Ahmadinejads lebt. Es gibt keine Chance, zu einem regionalen Frieden zu gelangen, solange die arabische Welt unter dem sich drehenden Schwert Teherans lebt. Schließlich ist, genau wie der ägyptische Präsident und der saudische König und die Golffürsten es flüstern, der Iran der Kern des Problems. Der Iran ist die Quelle des Gifts und die Quelle der Panik. Solange der Iran erstarkt, atomar aufrüstet und den Nahen Osten bedroht, hat der Frieden keine Chance.

Die Lektion ist eine bittere. Wenn der Iran atomar aufrüstet, wird der Frieden verschwinden. Ein atomarer Iran würde die Aussichten auf eine Versöhnung zwischen Israelis und Arabern endgültig zunichte machen. Daher muss die Friedenstaube in Bezug auf den Iran sehr falkenhaft sein. Wer nach Frieden strebt, muss mit dem Iran umgehen. Auch das Gegenteil ist wahr: Jeder, der eine Versöhnung mit Ahmadinejad anstrebt, betrügt den Frieden. Wer gegenüber den Ayatollahs nachgibt, lässt Mubarak und Abu Mazen im Stich.

Es stimmt: Das Einfrieren des Siedlungsbaus würde dem Kampf gegen die Zentrifugen helfen. Aber nur das Einfrieren der Zentrifugen würde die Auflösung der Siedlungen ermöglichen. Sobald man sich aus den Trümmern des Dogmas erhebt, ist die strategische Tagesordnung völlig klar: der Iran zuerst.

(Haaretz, 03.12.10)

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