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Das Leid der Welt gelangt alltäglich und allabendlich zu uns. Durch Fernsehen und Internet. Und alles fast in Echtzeit. So sehen wir auch die Schreckensbilder vom neuen Gazakrieg zwischen der palästinensischen Hamas und Israel.
Wir sehen die Bilder. Wir sind sozusagen „dabei“ und meinen, zu wissen, was passiere und wer schuldig sei. Doch Vorsicht! Bilder sagen nichts. Kriegsbilder sagen noch weniger, wenn denn weniger als nichts möglich wäre. Trotzdem: Dass Menschen schrecklich leiden und im Krieg getötet werden, sehen wir. Das wiederum stimmt.
Doch die Kriegsbilder führen uns nicht zum Kern des Leidens. Das liegt auch daran, dass die meisten Berichterstatter vom Wesen des Krieges nichts und vom Guerillakrieg rein gar nichts verstehen. Sie haben keine Ahnung. Sie urteilen vom Schein aufs Sein.
Das also zeigen die meisten Bilder vom Gazakrieg: Erschossene palästinensische Zivilisten. Vor allem Frauen und Kinder. Zurecht sind die Zuschauer, sind „wir“ empört, denn jeder anständige Mensch empört sich über das Töten Unschuldiger.
Ja, unschuldig sind diese Zivilisten. Aber wer ist schuld an ihrem Tod?
Das aus den Bildern abgeleitete Urteil kommt schnell. „Israel“. Ja, das ist der Schein.
Das Sein, der wahre Kern ist anders. Die meisten unschuldigen palästinensischen Zivilisten sind Opfer der palästinensischen Hamas.
Wie das? Ganz einfach. Die Hamas ist militärisch in diesem Krieg der kleine David, Israel der Riese Goliath. Militär gegen Militär wäre die Hamas sofort besiegt. Die Hamas hat keine Panzer, keine Flugzeuge, keine Raketenabwehr. Sie hat außer Raketen nur mehr oder weniger leichte Waffen.
Deshalb nutzt die Hamas, wie alle Davids gegen jeden Goliath dieser Welt die Guerilla-Strategie und erweitert sie um die Strategie des Terrors. Guerillas zielen aufs Militär, Terroristen aufs Zivil des Feindes.
Kein Guerilla oder Terrorist kann seinen Feind, das überlegene feindliche Militär, besiegen. Aber Guerillas und Terroristen können – und haben stets – den Preis fürs feindliche Militär und Zivil in die Höhe getrieben, so sehr genervt, entnervt und zermürbt, dass kaum je Guerillas und Terroristen militärisch besiegt werden konnten. Es sei denn, das feindliche Militär hat die feindliche Guerilla sowie das feindliche Zivil vernichtet. Gaius Julius Caesar hat das mit den Galliern vor rund zweitausend Jahren gemacht. Vor wenigen Jahren erst ahmte das Militär von Sri Lanka diese Vernichtungsstrategie nach, und zwar gegen die „Tamil Tigers“, also die tamilischen Guerillas und Zivilisten.
Guerilla-Strategie bedeutet an allen Orten dieser Welt und in allen Epochen der Weltgeschichte: Die Guerillas nutzen – man lese den Theoretiker und (!) Praktiker des Guerillakrieges Mao Zedong – ihre eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild. Das sieht so aus: Raketen und andere Waffen werden aus Kindergärten, Krankenhäusern oder Moscheen auf israelische Zivilisten gefeuert. Dort befinden sich auch die Eingänge zu den nach Israel führenden Tunnel. Das wollen die Ärzte und Patienten so wenig wie die Kinder und Kindergärtnerinnen, wahrscheinlich auch nicht die Geistlichen in den Moscheen. Doch sie werden nicht gefragt. Sie müssen sich den Guerillas fügen. Wenn sie sich nicht fügen, werden sie ermordet. Nun schießen die Guerillas aufs feindliche Militär. So ist das in jedem Guerillakrieg. Das ist sozusagen das Gesetz des Guerillakrieges. Anders geht es nicht. So ist es also auch im Krieg zwischen der Hamas und Israel.
Das von Guerillas beschossene israelische Militär hat nun, wie jedes Militär, zwei Möglichkeiten. Auf die Guerillas zurückschießen oder nicht. Wird nicht zurückgeschossen, geht der Beschuss aufs israelische Militär und Zivil weiter. Folglich wird zurückgeschossen. Das wiederum bringt für Israel, wie für jeden Goliath, politisch und psychologisch im wahrsten Sinne des Wortes verheerende Bilder.
Abschreckende Bilder oder der Tod eigener Soldaten und Zivilisten: Das ist die Alternative, vor der Israel, wie jedes gegen Guerilla kämpfende Militär steht.
Im Klartext: Guerillas, also auch die Hamas, missbrauchen die eigene Zivilbevölkerung als Geisel. Auf diese Weise wird der militärisch Überlegene – also Israels Soldaten und alle Bürger Israels – psychologisch und moralisch verunsichert. Die Guerilla aber, hier die Hamas, erobert durch die Schreckensbilder das Herz der fernsehschauenden Welt. Diese Bilder sind von hohem politischen Wert. Sie sind von der Hamas, wie von allen Guerillas zu allen Zeiten, gewollt. Das ist die Strategie der Guerillas. Sonst gehen auch sie unter. Sonst gäbe es keinen politischen Druck auf den Feind der Guerilla, also auf Israel.
Diejenigen, die die Bilder machen und kommentieren, also die Journalisten, werden somit, gewollt oder nicht, doch ahnungslos, weil kenntnislos, zum Instrument der Guerilla. Die Zuschauer verlassen sich – wie könnte es anders sein? – auf die Bilder und die Kommentare der Berichterstatter. Und fertig ist das Bild. Wir haben alles gesehen und nichts verstanden. Wir „haben Augen und sehen nichts“. Wir haben Ohren und verstehen nichts.
Dazu gibt es ein besonders krasses Beispiel aus dem jüngsten Gazakrieg. Drei am Strand spielende Palästinenserkinder wurden von Israels Militär getötet. Sie waren – wie könnte es anders sein? – völlig unschuldig, völlig unbeteiligt am Krieg. Unmoral total, denkt man aufgrund der Bilder sofort. Und sagt: „Israel handelt verbrecherisch.“ Stimmt das?
Jenseits von Unmoral total war diese Tötung ein Irrtum des israelischen Militärs. Das wurde zugegeben. Davon werden jedoch die Kinder nicht wieder lebendig.
Jenseits von Unmoral und Irrtum ist eine solche Tötung, weil zurecht Empörung auslösend, ein katastrophaler politischer Fehler, und freiwillig begeht keiner Fehler.
Wir fragen weiter: Warum ließen die Eltern der Kinder, mitten im Kampfgeschehen, ihre Kinder am Strand spielen? Weil ihnen das Schicksal ihrer Kinder gleichgültig gewesen sollte? Eine zynische und dumme und unrealistische Annahme.
Die Antwort ist einfach: Die palästinensischen Eltern waren sich sicher, dass Israel aus eben den genannten Gründen nicht auf palästinensische Zivilisten schießen würde. Wer hat sich hier aber diese Fragen jemals gestellt? Ich kenne niemanden. Kein Wunder, denn jeder urteilt nach Bildern, vom Schein aufs Sein. So sind wir Menschen nun einmal.
Genau diese Menschlichkeit und das menschelnde, oft unscharfe Denken kennzeichnen uns Menschen. Gerade deshalb müssen wir regelrecht trainieren, nicht vom Schein aufs Sein zu schließen, vom Trugbild aufs Realbild. „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Das kennen wir aus dem Alten Testament. Dieses (Erste) der Zehn Gebote bezieht sich eben nicht nur auf Gott und den Menschen, sondern auch auf Menschen untereinander und übereinander.
Man muss sich fragen, ob der Schein das Sein zeigt. Nein, meistens nicht. Hier erst recht nicht, zumal die Tragödie des palästinensischen Volkes unter anderem darin besteht, dass sich seine Führung seit jeher – seit mehr als 100 Jahren – selten ums Wohl der Menschen sorgte. Präsident Abbas ist eine Ausnahme, die Hamas entspricht dieser tragischen Regel.
Auch das kann man beweisen, wenn man sogar nur Bild zu Bild fügt. Israel rief Gaza-Zivilisten an und forderte sie auf, ihre Wohnhäuser und -regionen rechtzeitig zu verlassen. Sie würden dann oder dann angegriffen. Es flohen Tausende palästinensische Zivilisten. Dann aber rief die Hamasführung ihre Zivilisten zurück und drohte Rückkehr-Unwilligen mit harten Strafen. Was blieb den Fliehenden anderes übrig, als in den eigenen Wohnraum zurückzukehren? Von dort feuerte die Hamas auf Israelis. Diese schossen zurück. Massenweise wurden palästinensische Zivilisten getötet.
Wenn das so weitergeht, haben die Palästinenser noch in 1.000 Jahren keinen eigenen Staat.
Michael Wolffsohn, 67, ist Historiker an der Bundeswehruniversität München und Autor des Buches „Wem gehört das Heilige Land?“ (Piper Verlag). Wie Palästina doch noch eine Chance hat und das ganz große Blutvergießen im Nahen Osten vermieden werden kann, beschreibt er in seinem nächsten Buch „Zum Weltfrieden. Ein politischer Versuch“, das im Frühjahr 2015 bei dtv erscheint.
C. Bertelsmann, erste und zweite Auflage 1992. 6. Auflage (Neuauflage) Piper Verlag 2004
ISBN: 978-3-492-23495-5
Ich danke Herrn Professor Wolffsohn und der Redaktion des cicero für die Erlaubnis, den Essay hier vollständig wiedergeben zu dürfen. Das Original steht im Augustheft des cicero .