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Vor 80 Jahren gehörte ich fast schon zu Deutschlands Jugend, nur vier Jahre zu jung. Als i-Dötzchen lernten wir, daß der Führer die neue Zeit verkörpere und daher für die Jugend da sei, und daß Deutschland der Jugend gehöre und die Alten, Älteren, Eltern gestrig, nicht mehr wichtig seien. Das war für die Kinder etwas abstrakt, aber: Wir waren beeindruckt. Und die Älteren von uns durften sogar für die neue Zeit demonstrieren. Nicht am Freitag, auch nicht am Samstag: da war Schule. Am Sonntag demonstrierten sie, zufälligerweise immer zwischen 10 und 12 Uhr, und zwar auf den Plätzen, auf denen der katholische Patrokli-Dom und die evangelische Petrikirche standen. Ein schönes Bild: Da marschierte Deutschlands Zukunft, Jungen im Jungvolk, Mädchen im BDM, alle in schicken Uniformen, ernsthaft, aber fröhlich bei der Sache, ausgestattet mit Fanfaren und Trommeln.
Sie machten laute Musik, wie sie es gelernt hatten und wie es den Instrumenten eigen ist. Daß sie die Gottesdienste störten und oftmals unterbrachen, wußten die Kinder ja nicht, ordentliche gut erzogene Kinder, die wir ihres Alters wegen beneideten, Geschwister von Klassenkameraden. Kinder von Nachbarn und Bekannten der Eltern. Bei jeder vollendeten Runde um eine oder beide Kirchen machten die lautstarken Fanfaren und Trommeln Pause und es erhob sich das Gebrüll, von Männerstimmen eingeleitet, von kindlichen bis jugendlichen Stimmen erwidert: „Deutschland erwache, Juda verrecke.“
Mit dem Fanfarengetön sollten wohl die rückständigen Alten geweckt werden. Wer aber verrecken sollte, das wußten diese Kinder nicht: Denn einen Juden hatten sie noch nie gesehen; die waren seit 1938 im Straßenbild nicht mehr zu sehen, tot oder geflohen oder deportiert. Auch das Verrecken hatte sich als alltägliche Kampf-Sportart noch nicht so durchgesetzt, wie die Kinder es ein paar Jahre später erleben mußten. Sie wußten nicht, was sie sagten, waren sich der Tragweite ihrer Worte überhaupt nicht bewußt und daß sie an einer Leine geführt wurden. Wir haben ihre Lehre grausam früh erhalten, durch das Bombardement der Städte, als Flakhelfer, als Volkssturm-Soldaten mit der Panzerfaust, die nach hinten losging, oder in den Rheinwiesen.
Mißachtung der Alten, Eltern, Mißachtung anderer, sinnloses Gebrüll, alles von netten Kindern, denen die Einsicht in die Bedeutung ihrer Worte und ihres Handelns völlig fehlte. All das war die natioansozialistische Erziehung zu Kindersoldaten, zu der in der nächsten Altersstufe anstehenden Rekrutierung als Sturm-Aktivisten. Redakteure, die es nett finden, Kinder fröhlich singend ältere Frauen, Motorrad- oder SUV-Fahrer mit einem der häßlichsten Schimpfwörter der deutschen Sprache zu bedenken, betrachten sich gewiß nicht als Faschisten. Warum allerdings nicht? Warum kündigt ein Rundfunk solchen Redakteuren nicht fristlos? Die Redakteure betrachten sich selbst gewiß nicht als Faschisten. Warum eigentlich nicht?
Dieter Pfingsten, RS-Lennep