17. Juni 1953 – die verdrängte Revolution

2020-07-07

Von Angelika Barbe

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Am 17. Juni 1953 geriet das SED-Regime das erste Mal an den Rand des Zusammenbruchs. Flächendeckend wurde in der gesamten DDR an diesem und den Folgetagen gestreikt, demonstriert oder es wurden die örtlichen Machtzentralen gestürmt wie in Görlitz und Bitterfeld. Eine Millionen Bürger gingen in über 700 Städten und Gemeinden auf die Straßen, 13.000 Verhaftungen erfolgten, etwa 80 Todesopfer forderte die Niederschlagung des Volksaufstands. Die kollektive Erinnerung und Wahrnehmung der Vorgänge vor 67 Jahren blieb lange diffus. In der DDR-Bevölkerung war die Niederschlagung der Aufstände als entmutigende Niederlage in Erinnerung. In der alten Bundesrepublik begleitete ein Deutungsstreit den offiziellen Feiertag bis zu seiner Abschaffung. Lange Zeit galten die Juni-Ereignisse des Jahres 1953 lediglich als „Arbeiteraufstand“. In der DDR wurden sie gar als „faschistischer Putsch“ oder „vom RIAS angezettelte Konterrevolution“ gebrandmarkt. Inzwischen konnten Historiker wie Armin Mitter, Stefan Wolle, Ilko-Sascha Kowalczuk u. a. belegen, dass die Unruhen in den Dörfern sogar früher begannen als in den Städten, länger andauerten und alle Teile der ländlichen Gesellschaft erfassten. Die einseitige Betrachtungsweise auf die Arbeiterproteste führte dazu, dass die vielfältigen Ursachen der durch russische Panzer „gewaltsam abgebrochenen Revolution“ (Faulenbach) aus dem Blick gerieten.

Bereits 1952 begann die offene Sowjetisierung der DDR. Nach der 2. Parteikonferenz der SED wurde der „Aufbau des Sozialismus“ von der SED verkündet und mit Gewalt durchgesetzt. Zu den massiven ökonomischen und politischen Defiziten in der DDR kam die brutale Politik des „planmäßigen Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus“ sowie die einseitige Förderung der Schwerindustrie zulasten des Konsums. Zusätzlich führte die flächendeckende Zwangskollektivierung des bäuerlichen Mittelstandes nach sowjetischem Muster zur Verelendung der Landbevölkerung. All das wurde von der Bevölkerung als „totaler sozialer Krieg“ (Werkentin) empfunden.

Mit dem Ausbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP) wurde eine verdeckte Militarisierung in Gang gesetzt, die enorme Kosten verursachte. Die SED verschärfte die Auseinandersetzung mit der Kirche durch offene Repressionen gegen die Junge Gemeinde und kirchlich orientierte Studenten. Auch der bürgerliche Mittelstand war der SED ein Dorn im Auge. Wie tausenden anderen entzog man auch dem Vater des Schriftstellers Günter Kunert die notwendigen Lebensmittelmarken, weil er ein kleines Geschäft in Westberlin betrieb – die jüdische Mutter bestrafte man per Sippenhaft gleich mit. Die Warenpreise in den HO-Läden waren unerschwinglich. Der Durchschnittslohn betrug etwa 365 Mark, ein Pfund Butter kostete allein 12 Mark. Eine Massenflucht setzte ein – 331 390 Menschen flüchteten 1953 aus der SBZ in den freien Teil Deutschlands. Zu allem Überfluss verkündete die Partei zusätzliche Normerhöhungen, was die Arbeiter in den Betrieben und auf den Baustellen mit Arbeitsniederlegungen und Streiks beantworteten.

Die starke Zunahme der Abwanderung aus der DDR machte wiederum der sowjetischen Parteiführung Sorgen, die deshalb eine plötzliche politische Kehrtwende vollzog. Die DDR-Bevölkerung verstand das als Bankrotterklärung. Die Normenfrage war lediglich der Anlass für den Aufstand, dem sich alle sozialen Schichten der Bevölkerung anschlossen, was durch zahlreiche Lokal-und Regionalstudien belegt ist (Heide Roth: „Der 17. Juni in Sachsen“), die nach 1990 entstanden. In Görlitz gehörten zu den Sprechern der Streikleitung zahlreiche bürgerliche Teilnehmer. Streikorte waren auch Riesa und Gröditz. Der Vater des Zeithistorikers Dr. Johannes Zeller streikte in der 2. Schicht der Stahlgießerei im Stahlwerk Gröditz selbst mit und trat am nächsten Tag aus der SED aus. Ausgangspunkt der Erhebungen waren Großbetriebe und Großbaustellen, von wo die Demonstrationen starteten, wobei sich Bürger aus allen sozialen Schichten anschlossen. Die SED machte die Normerhöhungen noch am 16. Juni rückgängig.

Es war zu spät. Die Bevölkerung forderte jetzt freie Wahlen, den Rücktritt der Regierung („Der Spitzbart muss weg!“), die Freilassung tausender politischer Gefangener und übernahm in zahlreichen Städten und Gemeinden die Macht- vollständig in Görlitz und Bitterfeld.

Der 17. Juni 1953 war die erste Revolution, die von breitesten gesellschaftlichen Schichten der Bevölkerung getragen wurde. Es war ein Aufstand für die Freiheit. Dieses Datum steht für den Widerstand der Deutschen gegen die kommunistische Diktatur. Damals hatten die Bürger die Lehren aus der Geschichte gezogen und versucht, nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten die zweite Diktatur auf deutschem Boden selbst abzuschütteln.

Und sie waren die Ersten im Ostblock, die sich gegen die kommunistische Diktatur wehrten. Die zeitgenössischen Bezüge zum Pilsener Aufstand und zu den Reaktionen der polnischen Bevölkerung verdeutlichen die gemeinsamen, spezifisch realsozialistischen Problemlagen. Der 17. Juni war der Anfang einer Kette von Freiheitsbewegungen in den sowjetischen Satellitenstaaten. Nur mit Hilfe russischer Panzer konnte die SED das Volk an der Machtübernahme hindern. Bis heute verweigert die umbenannte SED/Linke das Eingeständnis, dass die DDR ein Unrechtsstaat war, will auf „tausend Wegen“ (Gesine Lötzsch) den Kommunismus errichten und fordert deshalb in ihrem Parteiprogramm die „Systemüberwindung“.

Die SED scheiterte bereits 1953 – aber erst während der friedlichen Revolution von 1989 wurde sie gewaltlos in den Orkus der Geschichte entsorgt. Der Kampf für Freiheit und Demokratie hat Opfer gefordert, derer anlässlich des diesjährigen Jahrestages kaum gedacht wird. Opfer und ihre Familien leben noch. Deshalb darf nicht vergessen werden, dass viele, die für Freiheit und Demokratie alles wagten, zahlreichen Repressionen ausgesetzt waren und noch heute an den Folgen leiden. „Wiedergutmachung bedeutet aus der Perspektive vieler Opfer nicht zuerst die Regelung materiellen Schadens, sondern die gesellschaftliche Anerkennung des Leidens. Die offizielle Anerkennung der Leiden der Opfer trägt dazu bei, ihre Würde wiederherzustellen.“(Ralf Wüstenberg)

Der Historiker Arnulf Baring forderte bereits 1957 in seiner Magisterarbeit, was uns Verpflichtung sein sollte: „Der 17 Juni war und ist für immer ein Anlass stillen deutschen Stolzes. Der Mut, die Entschlossenheit der Männer und Frauen unseres Volkes müssen im Gedächtnis der Nation bewahrt werden. “

Welche Rolle nimmt der Tag heute in der kollektiven Erinnerung ein?

Obwohl der Westen nicht beteiligt und im Osten das Thema bis 1990 tabuisiert war, gehört der historische Tag in die Tradition der deutschen und europäischen Freiheitsbewegungen.

Der 17. Juni ist „Zeugnis der Demokratie und des Freiheitswillens der Ostdeutschen“ (Gerhard A. Ritter) und eine „verdrängte Revolution“ (Eisenfeld, Neubert), die als Volksaufstand für die Freiheit begann und trotz Machtübernahme der Aufständischen und Entmachtung der SED nur militärisch von außen zerschlagen werden konnte.

Die „verdrängte Revolution“ des 17. Juni 1953 gehört als Gedenk-und Feiertag in die gemeinsame deutsche Erinnerungskultur und sollte von allen Demokraten deutschlandweit öffentlich gewürdigt werden.

Die Lösung

Quelle: Vera Lengsfeld

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