Zum Seitenende Übersicht Fundstücke Home & Impressum
Es gibt Lebensläufe, die machen sprachlos. So ein Leben hat Lotte Rays geführt. Erst mit über 80 Jahren, wie Heinrich Heine in der Matrazengruft, hat sie ihre Biografie aufgeschrieben und diktiert. Entstanden ist ein erschütterndes Zeugnis über das Leben in den linken Intellektuellenkreisen des 20.Jahrhunderts. Der Gulag war der auf die Höhe getriebene Zeitgeist der Menschenverachtung der tonangebenden Meinungsmacher, aber auch der menschlichen Solidarität, die Unbekannte gegeneinander übten und sich so das Überleben zu ermöglichen.
Durch Lottes fotografisches Gedächtnis entstand eine Erzählung, die so dicht und anschaulich ist, wie ein Film. Aber beim Lesen musste ich mir mehrmals sagen, wenn sie es ertragen konnte, musst ich es aushalten können, davon zu erfahren. Das Martyrium begann schon in der Kindheit, die sie selbst Kindzeit nennt, weil sie keine Kindheit im landläufigen Sinn hatte. Der geliebte Vater, ein begabter Architekt, verschwand aus ihrem Leben, da war sie drei Jahre alt. Er lebte noch neun Jahre geistig umnachtet in einer Anstalt, ehe er an einem Gehirntumor starb.
Lotte wurde zu ihrer herrschsüchtigen, kalten Großmutter gebracht, die sie verbal und körperlich quälte. Der schwache Großvater traute sich nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Er half ihr nur heimlich. Es wurde nicht besser, als die Mutter und die Geschwister auch in die Nähe der Großmutter zogen. Die Quälerei übernahm nun ihr Bruder. Das dauerte an, bis Lotte sich ein Herz fasst, zum Jugendamt ging und einen Bekannten der Familie als Vormund verlangte. Der akzeptierte und die Attacken hörten auf. Hier wird ein Schema im Leben der Charlotte Rays sichtbar. Sie duldet lange, dann befreit sie sich mit einem Ruck.
Das nächste Martyrium beginnt, als der jüngere Geliebte ihrer Tante, ein Kunstmaler, bemerkt, dass aus dem Mädchen Lotte eine hübsche Jugendliche geworden war. Er bestellt sie, unter dem Vorwand, sie porträtieren zu wollen, in sein Atelier, vergewaltigt sie und droht ihr, sie sei jetzt ein gefallenes Mädchen und wenn sie jemandem davon erzähle, würde sie in ein Heim für verwahrloste Jugendliche kommen. Er missbrauchte sie als Aktmodell und Sexualobjekt. Sie lenkte sich ab, indem sie im Atelier malte und damit die Grundlage für ihr künstlerisches Schaffen legte. Als der Bruder ihr Tagebuch findet und die Vergewaltigung damit publik wird, muss Lotte sich mit dem Maler verloben. Der stellt aber die Bedingung, seine Braut solle die Kunstakademie besuchen dürfen. So entkommt Lotte der familiären Enge. Nach einer Zeit hat sie die Kraft die Verlobung zu lösen und sich auf eigene Füße zu stellen. Da ist sie gerade 16 Jahre alt.
Sie muss neben ihrem Studium Geld für ihren Unterhalt verdienen. Als sie in einem Feinkostladen arbeitet, verletzt sie sich einen Finger in einer Küchenmaschine. Der Kassenarzt will amputieren. Da beschließt die junge Frau, all ihr Geld einzusetzen und zu einem bekannten Arzt zu gehen, der kürzlich nach Stuttgart gezogen ist: Dr. Friedrich Wolf. Der rettet tatsächlich ihren Finger, kassiert aber für jede Behandlung 5 Mark. Lotte muss hungern, damit sie diese Rechnungen bezahlen kann. Später, als sie längst ein Liebespaar sind, prahlt Wolf, der in seiner Praxis vor allem gut betuchte Wohlstandsdamen behandelt, die oft nur wegen seines guten Aussehens kommen, dass er Arbeiter umsonst behandeln würde. Als Lotte ihn an ihre Rechnungen erinnert, beteuert er, ihr das Geld zu erstatten, was er nie tat. Wolfs dominierender Charakterzug war sein Geiz. Er bemerkte die Armut seiner Geliebten, die so weit ging, dass sie zeitweilig hungern musste, nicht. Als er sie einmal zu einem Café-Besuch einlud, machte er ihr eine Szene, weil sie zu viel Kuchen gegessen hatte.
Er war trotzdem der Erste, von dem sich Lotte als Mensch angenommen und beachtet fühlte. Für sie war der über zwanzig Jahre Ältere auch ein Vaterersatz. Seine Frau Else, die in ihrer Ehe die häufigen Amouren ihres Mannes erdulden musste, sagte Lotte bei ihrem ersten Treffen: „Heute sind’s Sie, morgen ein anderes kleines Mädchen“. Aber sie irrte sich. Die Beziehung hielt sieben Jahre, bis sich Lotte daraus befreite.
Sie war bald mehr als nur Geliebte. Sie lieferte nicht nur Inspirationen und Ideen, sie sammelte mit Wolf gemeinsam Material für sein Stück „Bauer Baetz“ und übernahm die Regie als Wolf mitten in den Proben seine erste Sowjetunion-Reise antrat. Als Wolf später im Exil eine Schreibkrise hatte, half sie ihm mit dem Konzept von „Professor Mamlock“ und schrieb die ersten beiden Akte. Es funktionierte. Wolf vollendete das Werk, das ein großer Erfolg wurde. Wolfs jüngster Sohn Thomas Naumann bezweifelt diese Darstellung. Die älteste Fassung des „Mamlock“ hätte stark jüdische Bezüge gehabt, die später in der DDR gestrichen wurden. Aber das Wolf die ersten beiden Akte ergänzt hat, wäre eine möglich Erklärung dafür.
Ins Exil war das Ehepaar Wolf bereits Anfang 1933 gegangen. Allerdings hatte es seine beiden Kinder Markus, der spätere Spionagechef der Staatssicherheit der DDR und Konrad, später der vielleicht beste Regisseur der DDR, in Stuttgart beim Dienstmädchen gelassen. Die Aufgabe, die Jungen aus Deutschland herauszuholen, wurde Lotte zugeteilt, obwohl es auch für sie lebensgefährlich war. Nachdem sie die Söhnen erfolgreich in Sicherheit gebracht hatte, beauftragte Wolf sie, ihm auch sein Archiv aus Stuttgart zu beschaffen. Bei dieser Aktion rettete ihr Bruder, der inzwischen bei der SS war, Lotte vor einer Personenkontrolle. Sie verzieh ihm dafür seine früheren Quälereien.
Den Sommer 1933 verbrachte Lotte teilweise mit Wolf in Paris und mit einer Paddeltour auf der Loire bis zum Atlantik. Im Spätsommer waren sie mit Else und den Kindern auf der Insel Bréhat. Dort gab es eine Badestelle an einem Felsen, von dem eine Strömung den Badenden hinaus aufs Meer trug. Manchmal gab es auch gefährliche Strudel. In einen solchen geriet Sohn Konrad. Anfangs lachte der Junge, weil er wie auf einem Karussell im Kreis herumgewirbelt wurde. Dann aber zog der Sog ihn in die Tiefe. Wolf fotografierte seelenruhig seinen Sohn, der inzwischen um sein Leben kämpfte, Mutter Else schaute bewegungslos zu. Da sprang Lotte ins Wasser und bekam Konrad zu fassen, als er wieder nach oben gespült wurde. Mehrmals wurden die beiden in die Tiefe gezogen und wieder nach oben gespült, bis es Lotte gelang, mit den Füßen sich am Riff abzustoßen und aus der Mitte des Sogs zu entkommen. Sie schwamm auf die Felsen-Badestelle zu, wurde aber zweimal wieder weggerissen. Weder Wolf noch Else machten Anstalten, ihr zu helfen. Erst als sie schrei: „Nehmt mir wenigstens das Kind ab“ erwachte Wolf aus seiner Lethargie, oder was immer das gewesen war und griff sich Konrad. Danach konnte auch Lotte sich mit letzter Kraft an Land ziehen.
Sie hatte drei Leben gerettet, denn sie war inzwischen von Wolf schwanger. Das hatte sie sich gewünscht. Was sich danach abspielte, beschreibt sie nicht, nur, dass sie am nächsten Tag die Insel verlassen musste. Wolf gab ihr Geld, aber nur, weil sie ihm aus Paris Papier schicken sollte. Wovon sie leben würde, interessierte ihn nicht. Es bedurfte des energischen Eingreifens von Freunden, ehe Lotte etwas Geld für ihren Unterhalt bekam.
Wolf wusste schon von ihrer Schwangerschaft. Sie sollte unbedingt ein Foto machen lassen, damit er sehen konnte, wie eine werdende Mutter aussah. Das Negativ dieses Fotos fiel später den Nazis in die Hände, die es im „Stürmer“ als Beispiel für eine schöne deutsche Frau abdruckten, ohne zu wissen, wer diese Frau war.
Ende 1933 ging Wolf mit seiner Familie ins Exil in die Sowjetunion. Lotte blieb in der Schweiz, wo im Februar ihre Tochter Lena geboren wurde.
Auf Wolfs Wunsch folgte sie ihm mit dem Baby nach Moskau. Schon im Zug machte Lotte erste negative Erfahrungen mit den Sowjetmenschen. Als sie auf die Toilette musste und Lena in ihrem Körbchen im Abteil zurückließ, fand sie bei ihrer Rückkehr das Baby splitternackt vor. Ihre Mitreisenden blickten stur vor sich hin. Sie wagte nicht, Nachforschungen anzustellen.
In Moskau wohnte sie bei Familie Wolf, die zwei Zimmer hatten, eins für die Jungen, eins für die Eltern. Lotte schlief auf dem Fußboden neben Wolfs Betthälfte. Als er sich in der Nacht auf sie herunterfallen ließ, während Else auf der anderen Betthälfte lag, stieß sie ihn weg.
Der Zustand war unerträglich und wurde von Lenins Witwe Krupskaja beendet. Die schickte Lotte nach Engels, damals Hauptstadt der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Dort hatte Lotte schnell als Lektorin und Kunsthandwerkerin Erfolg. Sie konnte sich sogar ein kleines Holzhäuschen mit Garten kaufen. Wolf kam ab und zu nach Engels. Er hatte Projekte am Theater zu betreuen. Als er Im Herbst 1935 seine Absicht bekundete, sich von Else scheiden zu lassen und ganz zu Lotte zu ziehen, trennte sie sich von Wolf. Sie wollte den Jungs nicht den Vater nehmen.
Ob bei dieser Entscheidung schon der Journalist Lorenz Lochthofen eine Rolle gespielt hat, der wegen Lotte nach Engels gegangen war, geht aus ihrer Erzählung nicht hervor. Aber die beiden heiraten und Lotte wird von Lorenz schwanger, als um sie herum die Verhaftungen beginnen. Sie lassen sich wieder scheiden, weil sie der Sippenhaft entgehen wollen, wenn einer verhaftet wird. Das ist in der Sowjetunion eine Sache von einer Viertelstunde. Wie bei der Eheschließung ging man im Stadtsowjet zu einem Schalter, füllte ein Formular aus, reichte es durch die Klappe und war eine Viertelstunde später verheiratet oder eben geschieden. Lorenz erlebte die Geburt seiner Tochter Larissa noch mit, ehe er an seinem 30. Geburtstag verhaftet wurde. Lotte traf es ein paar Wochen später. Sie durfte nur ein Kind mitnehmen und entschied sich für Larissa, ihre jüngste Tochter. Lena, so hoffte sie, würde bei Familie Wolf unterkommen.
Friedrich Wolf rührte keinen Finger, als er von Lottes Verhaftung erfuhr. Er war mit der Rettung seines eigenen, kostbaren Selbst beschäftigt. Mit der Begründung, als Arzt im Spanischen Bürgerkrieg dienen zu wollen, betrieb er erfolgreich seine Ausreise aus der Sowjetunion. Er blieb dann lieber in Frankreich, als an die Front zu gehen. Frau und Söhne ließ er in Moskau zurück. Erst nach Beginn des Zweiten Weltkrieges kehrte er in die SU zurück und arbeitete später für das Nationalkomitee Freies Deutschland.
Lotte wurde während der Untersuchungshaft fürchterlich geschlagen. Die Untersuchungsrichter wollten von ihr wissen, wie oft sie es mit Leonardo da Vinci getrieben hätte und was sie für ihn spionieren sollte. Eine Freundin hatte bei der Vernehmung angegeben, dass sich Lotte nur mit Leonardo da Vinci beschäftigt hätte. Lotte sagte nichts, klärte ihre Vernehmer auch nicht über ihren Irrtum auf, das rettete ihr wahrscheinlich das Leben. Ihre kleine Tochter störte bei den „Untersuchungen“. Deshalb wurde das Baby vergiftet. Lorenz sah sie noch einmal kurz auf dem Gefängnishof, als er „auf Etappe“ nach Workuta geschickt wurde. Dann hörte sie sechzehn Jahre nichts mehr von ihm.
Die beiden hatten abgemacht, über Else Wolf in Verbindung zu bleiben. Aber Else beantwortete weder Lorenz Fragen nach Lotte, noch Lottes Fragen nach Tochter Lena und ihren Vater. Else schreib ihr zwar, aber kein Wort über die Menschen, die Lotet am meisten liebte. Irgendwann nahm sie an, dass Lorenz und Lena nicht mehr lebten. Lorenz wurde sogar eine Urkunde über Lottes Tod nach Workuta geschickt.
Warum Else Wolf so unfassbar grausam handelte, blieb ihr Geheimnis. Wenn sie je eine Erklärung dafür abgegeben hat, ist sie nicht überliefert worden. Thomas Naumann rückt dieses negative Bild von Else in ein anderes Licht. Else hätte Lena in den Kinderheimen der SU gesucht, gefunden und nach Moskau geholt. Sie lebte zeitweilig bei der Familie Wolf, später bei einer Künstlerfamilie. Warum sie Lotte die Auskunft, ihre Tochter sein in Sicherheit verweigerte, werden wir wohl nie erfahren.
Lotte kam nach der Untersuchungshaft in den Gulag nach Kasachstan. Bei ihrer Ankunft wurde ihr das Strafmaß bekannt gegeben: Fünf Jahre wegen Spionage. Daraus wurden dann wegen des Krieges acht Jahre Lager. Lotte überlebte, weil sie in der Lage war, sich schnell und effizient in die unterschiedlichsten Aufgaben einzuarbeiten. Trotz Hungers und Kälte war sie immer in der Lage, die Schönheit der Natur wahrzunehmen: Die Wolkengebilde über der Steppe, die kleinen Blumen nach dem langen Winter, bevor sie in der gnadenlosen Sonne verdorrten. Trotz unerträglicher Schmerzen wegen eines Lendenwirbelbruchs, den sie sich zuzog, weil der Wärter sie zwang, von einem vier Meter hohen Heuschober zu springen, nimmt sie das elegante Liebesspiel zweier Wildpferde wahr.
Sie muss bei ihren Mitgefangenen sehr beliebt gewesen sein, denn zweimal wurde sie von ihnen am Selbstmord gehindert und bei ihren Krankheiten unterstützt. Den gefürchteten Kriminellen, Urki, der Schrecken aller Politischen im Gulag, erzählte sie lange Geschichten und wurde von ihnen in Ruhe gelassen. Als sie in der Neujahrsnacht 1940 bei -47° Celsius in einen Schneesturm geriet, kam sie halb erfroren im Lager an und wurde nur durch die Umsicht ihrer Mitgefangenen gerettet. Aber zwei ihrer Zehen mussten amputiert werden. Der Chirurg hatte seine Knochensäge vergessen, also schnitt er die Zehen mit einer immer wieder abrutschenden Zange ab, während Lotte, um sich von den Schmerzen abzulenken, ununterbrochen Witze erzählte.
Danach wurde sie vom Natschalnik, der ihr Filzstiefel verweigert hatte, für leichtere Arbeiten eingeteilt, damit sie wieder zu Kräften kommen konnte.
Als ihr Lebensmut rapide abnahm, riet ihr eine alte Frau, schwanger zu werden. Diesen Rat befolgte Lotte. Sie wählte sich den Vater ihres Kindes, einen Georgier, aus, verbrachte einen zauberhaften Nachmittag mit ihm und es klappte. Leider war die Haftzeit von Sachar bald um. Sie sah ihn nie wieder. Er schickte noch ein Lebensmittelpaket und später Briefe, die sie aber nicht ausgehändigt bekam.
Eines Tages kam auch ein Päckchen von Wolf, mit Eau de Cologne, das sofort vom Kontrolleur konfisziert wurde. Von Lena erwähnte er nichts.
Nach dem unerbittlichen Gesetz des Lagers hatte Lotte, als sie hochschwanger war und nicht mehr arbeiten konnte, kein Recht mehr auf einen Platz auf einer Schlafpritsche. Sie musste unter einer solchen auf dem Boden schlafen. Sohn Nikolai, später Konrad, kam trotzdem gesund auf die Welt.
Nach dem Krieg wurde Lottes Haft in lebenslange Verbannung umgewandelt. Sie bekam in Dolina, der „Hauptstadt“ des örtlichen Gulag einen Verschlag am Ende eines Flurs als „Wohnung“ zugeteilt. Die Breite des Raums betrug nur 1,65 m. Der Länge nach passten gerade ein Bett und ein Tisch herein. Da bekam sie die Mitteilung, dass ihre Tochter Lena zu ihr geschickt wird. Sie erfuhr also, dass ihre Tochter noch lebte.
Für das inzwischen 15-jährige Mädchen war das eine Katastrophe. Nach einem verhältnismäßig komfortablen Leben in Moskau und Berlin, wo sie die Russische Schule in Karlshorst besuchte, landete sie in einem Verschlag, wo die Pritsche, die ganz hinten auf halber Höhe von Wand zu Wand reichte, nicht lang genug war, dass sie ihre Beine ausstrecken konnte. Sie hasste ihre Mutter für dieses unbekannte Elend. Bei der ersten Gelegenheit verließ sie diese Unterkunft, um bei der Familie einer Freundin zu wohnen. Von dort verschwindet sie ohne Abschied, als sie nach absolvierter Lehrerausbildung nach Moskau zurückkehren durfte. Dort verliert sich für Lotte ihre Spur. Anscheinend hatte sie nie wieder Kontakt zu ihrer Tochter. Bei Wikipedia kommt sie in der Auflistung von Wolfs ehelichen und unehelichen Kindern nicht vor.
Thomas Naumann erzählte mir, dass Lenas Verbindung zur Familie Wolf sehr eng war. Sie war häufiger Gast in Lehnitz, Wolfs letzter Wohnstätte. Als Markus Wolf nach der Wiedervereinigung ins Visier der Staatsanwaltschaft gerät, rettet er sich nach Moskau zu „Lenotschka“.
Lottes Verbannung endet überraschend 1954, als sie eine Nachricht vom Roten Kreuz erhält, sich sofort für die Ausreise nach Deutschland in Moskau einzufinden. Die Kommandantur wollte ihr die Ausreise aus Karaganda verweigern, schließlich war sie auf Lebenszeit verbannt. Aber nach einem Telegramm Lottes an den Kreml kam die Anweisung, sie gehen zu lassen.
Im Oktober 1954 kam sie völlig mittellos in Ostberlin an. Sei wandte sich an die Sowjetische Botschaft, die schickte sie zum ZK der SED. Dort befragte man sie zu ihrem Aufenthalt in der SU, wollte aber nicht glauben, was sie zu sagen hatte. Die Aufzeichnungen dieses Gesprächs würden als geheim eingestuft in der Giftkammer verschwinden. Sie bekam die Auflage, über ihre Erlebnisse nicht zu sprechen, woran sich Lotte hielt. Warum sie in der DDR blieb, obwohl sie aus Baden-Württemberg stammte und ihre Mutter dort noch lebte, geht aus ihrem Bericht nicht hervor. Auch als sie einen Schweizer heiratete, musste der zu ihr in die DDR übersiedeln. Erst nach dem Mauerfall gab sie ab und zu interessierten Literaturwissenschaftlern Auskunft.
Eine Wahrsagerin hatte ihr im Gulag prophezeit, dass sie eine große Reise machen und 94 Jahre alt werden würde. Beides traf zu. Was die Frau nicht gesehen hat war, dass Lotte die letzten zehn Jahre ihres Lebens in einer Matrazengruft verbringen musste.
Man ist geneigt, dieses schwere Schicksal als ungerecht anzuklagen, aber ohne diese Bettlägerigkeit wäre vielleicht ihr Buch nicht entstanden und uns eine wichtiges Schlaglicht auf den stalinistischen Totalitarismus vorenthalten worden.
Ich bin sehr dankbar, dass Lotte uns ihren Bericht hinterlassen hat und wünsche mir, dass er noch viele Leser findet. Vor allem aber sollte sie Eingang in die Friedrich-Wolf-Rezeption finden. Sie hat Wolfs Leben und Schaffen entscheidend geprägt. Er hat sie, wie Bertold Brecht Carola Neher, verraten und im Stich gelassen. Künftige Ausgaben von Professor Mamlock sollte darauf hinweisen, dass Idee, Konzeption und die ersten beiden Akte von Lotte Rays stammen. Das ist die Literaturgeschichte dieser einzigartigen Frau schuldig.
Lotte Rays (2018): Verdammt und Entrechtet
660 Seiten, Preis: 29,80 EUR.
ISBN: 978-3-86465-049-9
Quelle: Vera Lengsfeld