Selbst Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und gewiß kein Freund Netanyahus, nennt es einen „allgemeinen Konsens“, daß Israels Justizsystem einer Reform bedürfe. Es geht bei all dem derzeitigen Aufruhr also nicht um den Grundsatz sondern allein um verwaltungsrechtliche Details, die man ohne genaue Kenntnis der spezifisch israelischen Rechtslage kaum beurteilen kann.
Wenn sich in dieser Lage Menschen im Ausland, in einem Umfeld zunehmenden Antisemitismus’, zu einer Mahnwache versammeln, wenn sie in den Augen der Vorbeigehenden neben der gewählten Regierung das ganze Land verunglimpfen, den Abfall in die Diktatur und den Verlust der Freiheit beschwören, – wie lange bis zur nächsten Wahl und wann waren die letzten Wahlen bei den Nachbarn? – dann ist das unter Vermeidung anderer Worte, die mir zuerst einfallen, zumindest unklug. Zum Glück blieb dieser peinliche Auftritt von Passanten und Presse fast völlig unbeachtet. [FAB]
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Die israelische Innenpolitik bewegt wie nie zuvor die politische Welt auch außerhalb Israels. Zuletzt erhitzte hierzulande der Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Gemüter. Das Medienecho war eindeutig: Das Land wäre dabei, die Demokratie gänzlich abzuschaffen. Schon der Besuch an sich wurde infrage gestellt.
In einigen Kommentaren entstand dabei der Eindruck, bei dem jüdischen Staat handle es sich um das 17. Bundesland, dem man den Weg weisen müsse. Dieser Ton verkennt die komplexe Geschichte und Gegenwart des Landes, und es mangelt aus meiner Sicht in einigen Schreibstuben auch an Gespür und Wissen über die israelische Gesellschaft sowie das politische System und den Entstehungsprozess des modernen israelischen Staates.
STOLZ Es geht dabei nicht darum, dass die politische Kritik an der jetzigen israelischen Regierung ausbleiben sollte. Im Gegenteil, ich bin dem Bundeskanzler dankbar für seine klaren Worte, die er während des Staatsbesuches von Benjamin Netanjahu gefunden hat. Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Jüdinnen und Juden in aller Welt – aber bei Weitem nicht nur sie – sind stolz darauf.
Die Juden stehen fest an der Seite Israels und wollen dies auch weiterhin tun. Das gilt gerade angesichts der von der jetzigen rechtsnationalen Regierung geplanten Justizreform, nach der unter anderem Entscheidungen des Obersten Gerichts mit einfacher Regierungsmehrheit in der Knesset aufgehoben werden könnten. Der drohende Fatalismus, der mit einem solchen Abbau demokratischer Strukturen in Gang gesetzt werden könnte, muss klar artikuliert werden. Aber diese Warnung verliert an Wert, wenn der Ton des Protests überzogen wird.
Niemand käme auf den Gedanken, die französische Regierung infrage zu stellen, weil der Staatspräsident in dem Land umstrittene Sozialreformen gegen breiten und zum Teil heftigen gesellschaftlichen Protest am Parlament vorbei durchsetzt. Bezogen auf Israel wird besonders deutlich, dass es einen Unterschied zwischen politischer Kritik und dem pauschalierten Hass gegen das Land gibt.
FRANKREICH Die Demonstranten sehen sich als Patrioten und kritisieren trotzdem – oder deswegen, je nach Blickrichtung – ihre Regierung auf das Schärfste. Diese Haltung ist das, was den Unterschied zwischen dem als Israelkritik versteckten Antisemitismus und legitimer Kritik an der Regierung ausmacht. Anders gesagt: Was im Falle Frankreichs völlig abwegig klingt, sollte es bei Israel nicht weniger sein.
Dass es in Israel einer Justizreform bedarf, ist in dem Land weitestgehend Konsens. Der auf Gewohnheitsrechten basierende Einfluss des Obersten Gerichts gegenüber Parlament und Regierung ist kaum noch zeitgemäß. Im Einkammersystem Israels bildet das Gericht jedoch auch den einzigen Schutz vor einer »Tyrannei der Mehrheit«. Eine einseitige Schwächung seiner Position wäre also kaum im Sinne der liberalen Tradition des Landes, die der Ministerpräsident vergangene Woche eindrücklich im Bundeskanzleramt unterstrich.
Wenn Netanjahu an diese Tradition glaubt, sollte diese Reform nicht gegen weite Teile der israelischen Gesellschaft und ihrer politischen Repräsentation durchgesetzt werden. Der israelische Staatspräsident Isaac Herzog hat unlängst dazu aufgerufen, die Reform nicht ohne die Opposition umzusetzen. Zu wichtig ist diese für das demokratische Israel so entscheidende Wegmarke. Das Korrektiv von Präsident Herzog ist wohltuend, und auch ich wünsche mir diesen Weg.
REFORM Dass eine wirksame Reform in politisch ruhigeren Zeiten versäumt wurde, stellt sich nun als Manko heraus. Die beeindruckenden und in aller Regel friedlichen Proteste in dem Land zeigen jedoch die Liberalität und Vitalität der israelischen Demokratie. Die Anzahl der Demonstranten ist beachtlich. Hinzu kommt, dass die Eliten im Land hör- und sichtbar Stellung beziehen; von großen Wirtschaftsunternehmen bis zu Offizieren der Armee.
Viele Israelis sind allerdings auch frustriert. Sie wollen endlich eine rasche Veränderung ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation, wollen einen Ausweg aus dem jahrelangen politischen Stillstand und dem festgefahrenen Konflikt mit den Palästinensern. Einen Teil dieser Gruppe weiß eine Regierung, die in weiten Teilen populistisch bis extremistisch agiert, für sich zu gewinnen. Diese bewusst vorangetriebene Spaltung der Gesellschaft ist gefährlich.
Die Aufgabe einer Regierung sollte genau das Gegenteil sein: zusammenführen und Gräben überwinden. Gerade in Israel muss das nicht im luftleeren Raum geschehen. Jüdische Werte sind in ihrem Kern auf die Idee der Gemeinschaft ausgerichtet. Die jüdische Geschichte ist indes voll von Erfahrungen, den Zusammenhalt ebendieser zu brechen – ob von außen oder von innen. Wir haben uns noch immer erfolgreich dagegen gewehrt.
In wenigen Tagen feiern wir Jüdinnen und Juden in Israel und überall auf der Welt Pessach, das Freiheitsfest. Mit dem Auszug aus Ägypten wird aus einer Schicksalsgemeinschaft ein Volk; das jüdische Volk, auf dem Weg in das Gelobte Land. Diese Erinnerung prägt die Einheit jüdischen Lebens bis heute. Der jüdische Staat spielt dabei eine zentrale Rolle, für uns hier in der Diaspora und besonders für alle seiner Bürgerinnen und Bürger. Es gibt schließlich nur einen.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Quelle: Jüdische Allgemeine
Hervorhebungen von mir.