Der Junge vom Bahngleis

24. August 2019

Von T. Bodan

Eine fiktiv-literarische Aufarbeitung die dem ermordeten Leo Stettin ein Denkmal setzen und ihn vor dem schnellen Vergessen bewahren soll. Ein knapper Kommentar dazu von mir [FAB] steht auf der Blogseite.

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Von mir für euch.

Vielleicht wäre das Ganze nie passiert, wenn der Tag nur ein winziges Bisschen schlechter angefangen hätte. Ihr wisst ja, wenn man irgendwie nicht so gut drauf ist, wenn das Herz nicht ständig Purzelbäume schlägt, weil man sich tierisch auf eine bestimmte Sache freut, dann guckt man mehr auf das Ringsherum und so. Ja, und das Ringsherum hatte es inzwischen in sich. Meine Mutter hatte mich immer wieder darauf hingewiesen. „Nimm dich vor denen da in Acht und vor diesen, pass dort besonders auf und erst recht hier…“. Es nahm überhaupt kein Ende mit diesen immer neuen Verhaltensregeln und ich gebe gerne zu, dass ich manchmal einfach gar nicht mehr wußte, wo ich denn noch überall meine Augen haben sollte. Ich kam mir manchmal vor wie im Krieg. Dabei wollte ich einfach nur spielen, rumtollen, halt ein typischer Junge sein. Doch diese Zeiten waren vorbei, jedenfalls hier bei uns.

Heute jedoch ging es raus. Endlich Ferien und auf zu den Großeltern, aufs Land, wo ich noch nie aufpassen musste… naja, bis auf den blöden Hund von den Nachbarn, denn der hatte irgendwie eine Meise. Gehörte solchen verkappten Grünen und kriegte kaum je was Vernünftiges zu fressen, das arme Vieh… also bis auf Bohnen, Graswurzeln und so ein Zeug. Kein Wunder also, dass der am Durchdrehen war und immer mal versuchte, bei uns Kindern einen Bissen aus der Wade zu bekommen. War aber viel zu lahm der Grünenköter, um uns zu kriegen und so haben wir uns öfter einen Spaß draus gemacht, möglichst nah mit den Fahrrädern an seiner armseligen Hütte (ein alter Bulli) vorbei zu fahren. Das lächerliche Gekläff war einfach herrlich… und wenn dann die Hundehalter in ihren komischen, meist total verdreckten Schlumperklamotten rausgekrochen kamen war der Tag perfekt.

Oh wie freute ich mich auf meine Großeltern und oh wie bereue ich es jetzt mich so unaufmerksam meiner Vorfreude hingegeben zu haben. Vielleicht hätte ich den bösen schwarzen Mann dann kommen sehen. Vielleicht hätte ich ihm ausweichen können…

Aber es ging so schrecklich schnell, es war so unglaublich brutal.

Eben noch stand ich auf dem Bahnsteig und freute mir ein Loch in den Bauch, bei dem Gedanken bald meine Großeltern zu sehen und ganze lange Sommerferien lang mal nicht aufpassen zu müssen und plötzlich lag ich auf den Gleisen und sah den Zug, auf den ich mich eben noch gefreut hatte, auf meinen kleinen Körper zurasen. Ich erhaschte einen letzten Blick meiner Mutter, die sich irgendwie über die Gleise auf die andere Seite hatte retten können. Es war der traurigste Blick, den ich je gesehen hatte, ja, ich wusste nicht einmal, dass man so traurig gucken kann.

Dann war alles wie in Zeitlupe. Ich wurde getroffen und ein Stück nach vorn geschoben… am fassungslosen Gesicht meiner armen Mutter vorbei. Dann trennte mir das erste Rad mein rechtes Bein ab. Der Schmerz war unbeschreiblich. Ich schrie, aber der Zug hatte kein Erbarmen. Als auch mein Arm abgerissen wurde, hörte ich auf zu schreien. Ich dachte ich sei bereits tot, aber das war ich nicht… noch lange nicht. Ich wünschte, ich hätte weiter geschrien, denn nun hörte ich sie, die Schreie meiner Mutter, meiner armen, armen Mutter.

Irgendwann dann war es vorbei, jedenfalls für mich. Ich sah meinen zerschundenen, zerrissenen Körper auf den Gleisen, meine Mutter wie ein zerknülltes Stück Papier daneben und ein unglaubliches Tohuwabohu auf dem Gleis, von dem ich herunter gestoßen worden war… Gleis 7.

Das ist meine Geschichte. Sie ist nicht lang, sie ist nicht groß, aber mehr sollte es für mich nicht geben. Mehr an Existenz sollte ich in diesem Deutschland, angeblich dem besten, in dem wir gut und gerne leben, nicht haben dürfen.

Bitte vergesst mich nicht!

Quelle: Vera Lengsfeld

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